So., 02.02.25 | 18:30 Uhr
Das Erste
Syrien: Die Angst der Alawiten vor Verfolgung
Viele Angehörige der Volkgruppe der Alawiten haben sich in die Küstenregion zurückgezogen, voller Angst vor Repressalien durch die neuen Herrscher. Denn Ex-Präsident Assad ist Alawit. Unter ihm bekamen viele Alawiten einst hohe Posten im Militär. Nun fürchten sie Racheakte durch die HTS-Miliz. "Seit 40 Tagen habe ich keinen Kontakt mehr zu meinem Sohn. Sie haben ihn verschleppt“, erzählt uns Mohammed. Hier, nahe des Heimatdorfes der Assads, ist die Freude über den Machtwechsel im Land gedämpft. Gleichzeitig versuchen viele Alawiten – eine Glaubensgemeinschaft, die als Abspaltung des schiitischen Islams gilt – das Vorurteil auszuräumen, alle Alawiten seien pro-Assad gewesen.
Alawiten werden mit Assad in Verbindung gebracht
Checkpoint in den Bergen. Hier hat jetzt die HTS das Sagen. Weil wir eine Drehgenehmigung vorweisen können, geht es überraschend schnell. Wir als ARD-Team dürfen weiterfahren. Unterwegs im Kernland der Alawiten, der Glaubensgemeinschaft, der auch Ex-Präsident Assad angehört. Wir treffen einen, der mit dem Vorurteil aufräumen will, das alle Alawiten pro-Assad seien. Hassan Ahmad saß unter Assad monatelang im Gefängnis. Wegen kritischer Posts auf Social Media wurde er als politischer Aktivist weggesperrt. "Ein schwieriger Weg voller physischer, psychischer Folter. Von der physischen Folter konnte ich mich erholen, aber die psychische Folter werde ich nie hinter mir lassen können. Leider werden wir Alawiten bis heute immer eng mit Assad und seinen Verbrechen assoziiert."

Nicht nur Assad, auch die neuen Machthaber fürchtet er. Und zeigt uns Videos, die belegen sollen, wie islamistische Kämpfer Alawiten willkürlich erniedrigen. "Alle Alawiten, ihr seid Hunde: bellt jetzt mal." sagen die Kämpfer in diesem Video. "Die alawitische Gemeinschaft ist voller Sorge. Meine Freunde sagen ständig 'Hassan, sie werden uns abschlachten. Wenn nicht heute, dann morgen. Wenn nicht morgen, dann ganz sicher übermorgen.'"
Die islamistischen Milizen nehmen Rache
HTS-Kämpfer auf dem Weg in eine Alawiten-Hochburg. Sie nehmen uns mit, lassen uns filmen beim Besuch des Dorfes Qardaha, dem Herkunftsort der Assads. Einige Alawiten profitierten von der Nähe zur Herrscherfamilie, bekamen pompöse Anwesen und hohe Positionen im Militär. Hafez al-Assad, hier geboren und begraben. Von den aufständischen Islamisten genauso verhasst wie sein Sohn Bashar. Sein Mausoleum: heute voller Beleidigungen auf Arabisch. Nach dem Sturz der Assad-Dynastie nahmen die HTS-Kämpfer hier Rache, setzten das Grabmal des einstigen Machthabers in Flammen. Die Bevölkerung habe den Vormarsch der HTS begrüßt, meint der neue starke Mann Syriens. "Als wir in Gebiete vorgerückt sind, die vom Militär kontrolliert wurden, ist kein Einwohner geflohen", sagt Ahmed Al-Sharaa in einem Interview. "Kein Muslim, kein Christ, kein Kurde, kein Alawit."

In der Mittelmeerstadt Tartus hören wir anderes. Viele Alawiten seien aus Angst vorerst untergetaucht. 10-15% der syrischen Bevölkerung gehören der religiösen Minderheit an. Ihr Glaube: eine Abspaltung des schiitischen Islam, ihre Auslegung: moderat. Eine geheime Sekte voller Ungläubiger, so sehen sie viele islamistischer Kämpfer. Kaum eine Alawitin, die Kopftuch trägt. Wir treffen Susan und ihre Familie an einem Freitag. Statt Moschee, Strandbesuch. Wie fast jede Alawitin hat auch sie Verwandte, die in Assads Armee dienten und sich nun zuhause verstecken. "Mein Bruder war ein hochrangiger Offizier. Er war Oberst in der Luftwaffe. Beim Umsturz legte er wie alle Soldaten seine Waffen nieder, verließ seinen Posten. Wenn du aber ein Soldat warst und dazu noch ein alawitischer Soldat, dann bist du jetzt auf jeden Fall im Visier."
Alawiten erzählen von verschwundenen Angehörigen
Die alten Schutzmächte sind nichtmehr da oder womöglich bald weg. Assad schon gefallen. Russland – der engste ausländische Verbündete, hat zwar noch seine Militärbasis. Doch die Zukunft der russischen Truppen in Syrien bleibt ungewiss. Und im Schatten großer Umbrüche: verschwinden spurlos Menschen. So erzählen es uns Alawiten auf den Straßen. Sie alle vermuten Racheakte der HTS. "Wir wissen nichts über das Schicksal meines Sohnes", klagt Mohammed Hazem. "Seit 40 Tagen, kein Telefonkontakt, keine Infos, gar nichts." Und Noura Ahmed erzählt: "Mein Mann wird vermisst, wir wissen nichts über ihn. Sein Handy ist aus. Ich habe nur gehört: er soll in einem Gefängnis in Idlib sein."

Aussagen gegen Aussagen. Die HTS versichert weiter: alle Minderheiten, also auch die Alawiten, hätten nichts zu fürchten im neuen Syrien. Worte, denen der Aktivist Hassan Ahmad nicht traut. Er sieht nur einen Lösungsansatz, um die Bevölkerung untereinander zu befrieden: Vergeben. Und: "Wir müssen das syrische Volk wieder zusammenbringen, und komplett aufhören in Kategorien zu denken wie Alawiten, Sunniten, Minderheiten, Mehrheiten." Sie alle hätten seit Jahrtausenden einen festen Platz in Syrien. So voller Angst wie in diesen Tagen war die alawitische Gemeinschaft aber seit Jahrzehnten nicht.
Autor: Ramin Sina
Stand: 03.02.2025 09:27 Uhr
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