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Taiwan: Lernen, bis die Augen streiken

Taiwan: Lernen, bis die Augen streiken  | Bild: SWR

Wer in Taiwan schreiben lernt, braucht viel Geduld. Anders als auf dem chinesischen Festland werden hier noch immer die komplizierten, alten Schriftzeichen unterrichtet. Winzige Details unterscheiden sie voneinander. Viele Stunden täglich beugen sich Taiwans Kinder und Jugendliche über ihre Bücher und Hefte und verderben damit ihre Augen: 80% der Taiwanesen sind kurzsichtig, wenn sie die Schule verlassen.

Wer nichts dagegen unternimmt, kann erblinden. Alarmierend findet das eine Schuldirektorin und versucht, gegenzusteuern. Mehr Licht, mehr Luft und öfter in die Weite blicken, das sind die einfachen Rezepte gegen schlechte Augen. Doch wer sie durchzusetzen will, muss an vielen Fronten kämpfen. Eine Reportage von Annette Dittert  (ARD-Studio Tokio).

Weit verbreitete Kurzsichtigkeit

Drachenbootfest in Taipeh. Ein spannendes Rennen, wenn man erkennt, wer vorne liegt. Die meisten hier aber sehen davon genau so viel: So gut wie nichts. Denn 80% der Taiwaner sind wie Peggy schwerst kurzsichtig, wenn sie die Schule verlassen. Ihrer Mutter fiel das erst auf, als Peggy 12 wurde. Und sie in der Schule immer weiter nach hinten fiel. "Und eines Tages kam sie nach Hause und konnte nichts mehr lesen", erzählt Tsai Yu-chiao. "Und der Arzt sagte mir, dass Peggy eine Operation brauchen würde, wenn ich nicht sofort etwas unternehme.” Peggy war kurz davor, blind zu werden. Für eine teure Laser-Operation aber hatte ihre Mutter kein Geld. Denn kurz darauf starb ihr Mann.

Frau setzt Kontaktlinse ein
Eine Methode gegen die Kurzsichtigkeit: Nachtlinsen.  | Bild: SWR

Und so begann sie in ihrer kleinen Wohnung am Rande von Taipeh Versicherungspolicen zu verkaufen, und nähte nebenbei noch bis spät in die Nacht, bis sie das Geld zusammen hatte für eine in Ostasien mittlerweile sehr populäre Methode gegen die Kurzsichtigkeit: Nachtlinsen. Besonders dicke Linsen, die die Hornhaut über Nacht wieder zurückverformen. Deren Wirkung aber nur hält, wenn man sie auch jede Nacht trägt. Und Peggys Mutter muss sie immer wieder neu kaufen. "Das ist teuer, aber die Augen sind doch die Fenster zur Seele, und wenn sie nichts sieht, werden die Welt, und ihre Gedanken immer dunkel sein für sie. Ich wollte aber doch, dass sie helle Gedanken hat.” Und Chen Peggy sagt: "Und ich hatte so Angst, blind zu werden. Denn meine Mutter hatte mich schon darauf vorbereitet, und mit einer Augenmaske beigebracht, wie ich meine Socken wasche und falte, für die Zeit, wenn alles dunkel werden würde.” Peggy hat Glück gehabt. Aber solche Fälle plötzlicher Erblindung als Folge von Kurzsichtigkeit sind immer häufiger in Taiwan. Die Gründe: Der maximale Drill und Druck in den Schulen und Universitäten und die alten chinesischen Schriftzeichen, die in Taiwan weiter benutzt werden. Die langes Lernen nötig machen, weil sie kompliziert und schwer zu entziffern sind.

Ein Blinder als lebende Warnung

Blinder Mann mit dunkler Sonnenbrille an Tisch
Russ Khan hatte seine Kurzsichtigkeit zu lange ignoriert und ist jetzt blind | Bild: SWR

Russ Khan war ein erfolgreicher IT Manager und hatte gerade ein neues Softwareprogramm entwickelt, als er eines Morgens auf sein Handy schaute und nichts mehr sah. Netzhautablösung. Er hatte seine Kurzsichtigkeit zu lange ignoriert. Zwölf Mal wurde er operiert, ohne Erfolg. "Danach habe ich versucht, mich umzubringen. Aber es hat nicht geklappt. Wenn Du blind bist, ist es nicht so einfach, sich umzubringen. Das klingt jetzt witzig, aber das war es natürlich nicht. Und danach habe ich allmählich begriffen, mit der Hilfe meiner Familie, dass mein Leben nicht zu Ende ist. Das ich etwas tun kann. Auch in diesem Zustand. Für mich und die anderen." Seitdem tourt er durch Taiwans Schulen, als lebende Warnung. Die Direktorin höchstselbst hat ihn heute eingeladen. Denn sie will weg von dem autoritären Frontalunterricht, der auch schlecht für die Augen ist, hin zu einem spielerischeren Lernen. Als erstes erzählt er, wie es ist, wenn man morgens die Augen öffnet und trotzdem alles schwarz bleibt. Und dann, wie sie Blinden, die ihnen jetzt immer häufiger auf den Straßen begegnen, am besten helfen können. Eine Stunde, die ab jetzt fest im Lehrplan ist.

Schriftstück mit chinesischen Schriftzeichen
Die alten chinesischen Schriftzeichen strengen die Augen an | Bild: SWR

Denn die Direktorin will das Problem jetzt frontal angehen. Heute hat sie zwei Professoren zu Besuch, denen sie die hohen Werte ihrer Schüler zeigt. Mrs. Zhang und Mr. Wu haben im Regierungsauftrag Studien zum Thema verfasst. Ein hoher Beamter sitzt im Hintergrund. "Die Kurzsichtigkeit ist für Taiwan mittlerweile ein Problem der nationalen Sicherheit", meint der Regierungsbeamter Wu Chin-chuan. "Wir finden keine Techniker mehr und niemanden für unser Militär. Und wenn unsere Schüler nicht gut sehen, können sie am Ende auch nichts lernen.” Die Studien sind eindeutig: weniger Frontalunterricht, mehr Pausen, mehr Tageslicht. "Unsere letzten Experimente mit Hühnern und Affen haben eindeutig ergeben, dass regelmäßiges Tageslicht die Kurzsichtigkeit bei Kindern um 30% pro Jahr reduzieren kann”, so Dr. Wu Pei-chang, von der Ghang Gung Universität. Im Lehrerzimmer ist man sich einig. Das größte Problem der Direktorin aber sind die Eltern. "Die sagen mir immer wieder, dass es für gutes Sehen aber doch keine Noten gibt, für gute Examen aber schon", meint Schuldirektorin Huang Wen-lin. "Und dass es wichtiger ist, dass ihre Kinder gute Examen machen, als dass sie gut sehen können.”

Pause für die Augen in der Schule

Mr. Khan bricht derweil in ihrem Auftrag weitere Tabus. Die Kinder staunen nicht schlecht. Sie sollen jetzt weniger lernen. "Alle 30 Minuten machen wir Augenpause? Wie lang?" fragt Russ Khan die Kinder. "10 Minuten” "Und wie lang müsst ihr täglich mindestens draußen spielen?" "Zwei Stunden", antworten die Kinder. Viele ihrer Eltern werden das nicht gerne sehen, aber für sie ist Mr. Khan der ideale Lehrer. Ein echter Mensch mit einem eigenem Schicksal statt Frontalunterricht. "Und er ist ein ganz besonderer Mensch", sagt Schuldirektorin Huang Wen-lin. "In Taiwan sagen wir, er ist von den Wolken in ein tiefes Tal gefallen, und musste wieder ganz von vorne anfangen. Das verstehen die Kinder mit ihrem Herzen. Und ich bewundere ihn für seinen Mut, sein Schicksal hier mit uns zu teilen." Und weil hier nicht nur theoretisch gepredigt wird, werden seine Ratschläge auch direkt in die Tat umgesetzt. Raus aus dem Klassenzimmer, der Unterricht findet ab sofort nachmittags im Freien statt. Und so lernen die kleinen Taiwaner hier etwas für sie höchst ungewohntes. Dass die Gesundheit ihrer Augen wichtiger ist als Disziplin und gute Noten. Und dass eine solche Art von Unterricht noch dazu richtig Spaß machen kann. Den allermeisten jedenfalls.

Stand: 27.08.2019 04:41 Uhr

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