Mo., 18.09.17 | 04:50 Uhr
Das Erste
Thailand: Kita-Kids im Boxring
Die kleine Massalin ist fünf Jahre alt und geht in den Kindergarten. Sie steht kurz vor ihrem ersten Kampf im Thaiboxen. Kinderkämpfe in Thailand. Kinder, die für ihre verarmten Familien kämpfen.
Wir sind weit außerhalb vor Bangkok in einer Armensiedlung. Massalin Yuhanngor läuft sich mit 10 ihrer insgesamt 13 Geschwister vor dem Training warm. Alle betreiben Thailands Nationalsport Muay Thai. Thaiboxen.
Ihr Vater hat in dieser Baracke eine Trainingsstätte eingerichtet. An sechs Tagen in der Woche, trainieren hier alle Kinder der Familie zweimal pro Tag, dazu noch ein paar Jugendliche aus der Nachbarschaft. Trainiert wird Massalin vor allem von ihrem Vater. Nopparti Yuhanngor bekommt in seinem Beruf als Handwerker gerade so den Mindestlohn von umgerechnet 230 Euro.
Hohes Risiko für Verletzungen
Wie die meisten der vielen armen Familien wollen auch die Yuhanngors, dass ihre Kinder durch die beim Thaiboxen ausgelobten Prämien etwas dazuverdienen. Auf unsere Frage, was sie an diesem Sport toll findet, antwortet Massalin, sie kämpfe, weil sie Geld brauche. Mutter Somsamorn hält für Massalin den Punchingball fest. Im Ring wird Massalin ohne Kopfschutz sein, Schläge und Tritte gegen ihren zarten Körper ertragen müssen.
"Ich bin durchaus in Sorge," sagt die Mutter. "Aber Massalin ist gut trainiert. Wenn sie kaum trainieren würde, wäre das Verletzungsrisiko hoch. Aber durch das viele Training wird es hoffentlich keine Verletzungen geben."
Nach zwei Stunden die letzte Übung. Massalin sollen zäh im Nahkampf werden. Der Vater trägt ein T-Shirt, das all seine Kinder und ihre Pokale zeigt.
"Wir trainieren unsere Kinder," sagt er, "weil es sie Disziplin lehrt. Und auch, weil es sie von Drogen fern hält. Wenn sie nicht boxen würden, wäre die Gefahr groß, von Drogen verleitet zu werden."
Direkt neben einer Moschee, liegt in dieser muslimisch geprägten Siedlung der Kindergarten. Massalin ist nach dem Training am frühen Morgen nun tagsüber hier. Neben Massalin soll es im ganzen Land geschätzt 10.000 Kinder unter 15 Jahren geben, die Thaiboxen. Dass sie schon von klein auf zu Kampfsportlern ausgebildet werden, gehört zur nationalen Kultur.
"Thaiboxen ist nicht gefährlich," behauptet die Kindergartenleiterin Sukanya Wanwang, "es ist sogar gut für Kinder, weil sie sich so verteidigen können, denn derzeit gibt es selbst in dieser armen Gegend viele Gangs, die Kinder entführen, um ein bisschen Geld von den Familien zu erpressen."
Der erste Kampf
Nach dem Essen Zeit für den Mittagsschlaf. Für Massalin, die wir sehr ruhig und schüchtern erleben, sind es nur noch wenige Stunden bis zu ihrem ersten Kampf.
Massalin und ihre Verwandte Nicha, auch eine Thaiboxerin bekommen die Haare zu ihren Kampffrisuren geflochten. Auch das jüngste Familienmitglied, die zweijährige Enkelin hilft mit. Eigentlich sind sie Mädchen wie überall auf der Welt. Mit dem Unterschied, dass sie kämpfen. Im Wohnzimmer die Trophäensammlung.
Durch gewonnenes Preisgeld konnte sich die Familie bislang auch die teuren Schulgebühren für jedes Kind leisten. – Durchboxen.
Nopparit Yuhanngor, Vater: "Kämpfen kann man nur eine kurze Zeit im Leben. Wenn sie älter werden, müssen sie damit aufhören. Aber weil unsere Kinder alle eine gute Ausbildung haben werden, können sie auch woanders Geld verdienen. Niemand kann auf unsere Kinder herabsehen und behaupten, sie seien nicht gebildet.“
Wir fragen nochmal, warum sie boxen. "Na, wegen des Geldes."
Mit an den Essenstisch kommt plötzlich Araya, ein Mädchen aus der Nachbarschaft. Araya wird an diesem Abend Massalins Gegnerin sein, noch aber spielen beide zusammen im Wohnzimmer.
Zum Kampfabend kommt die ganze Familie mit. Nach 30 Minuten ist die Veranstaltungshalle in Bangkok erreicht.
Eigentlich sollten sich beide nun noch eine Stunde bis zum angekündigten Beginn der Kämpfe vorbereiten können. Doch chinesische Touristen, für die der Abend organisiert wurde, sind viel früher als erwartet erschienen. Sie warten ungeduldig. Der Veranstalter, der nicht vor Ort ist, drängt per Telefon zur Eile.
Ärzte warnen vor Gesundheitsschäden
Jedes Mädchen bekommt an diesem Abend umgerechnet acht Euro. Das entspricht dem täglichen Mindestlohn in Thailand. Viel Geld für die Familie Yuhanngor.
"Ich bin sehr aufgeregt, sagt die Mutter, "es ist Massalins erster Kampf und wir wissen nicht wie sie nun im Ring reagieren wird."
Drei Runden a zwei Minuten, kein Kopfschutz, kein Körperschutz, kein Ringarzt. Massalin ist nur 17 Kilo schwer. Sie bekommt von ihrer größeren Gegnerin einige Kopftreffer ab. Wie üblich, wird der Kampf der Kleinsten unentschieden gewertet. So sehen Sieger aus. Auf die Frage, ob sie sich verletzt hat, nickt sie nur. Bauchschmerzen habe sie, erfahren wir später.
Der Kampfabend geht weiter. Ausländische Ärzte warnen besonders vor Gehirnschäden, zum Beispiel früher Demenz. Aber Thailands Behörden berufen sich auf die jahrhundertealte Tradition des Muay Thai. Bis heute gibt es in Thailand keine ernsthaften Anstrengungen, Kinder vor Kämpfen zu schützen.
Vater Nopparit erzählt, dass Thailands Regierung zumindest erwägt, Kopf- und Körperschutz für Kinder eventuell zur Pflicht zu machen.
Draußen ahmt Massalin einen Kampf nach. Zum ersten Mal sehen wir sie richtig lachen. Morgen früh um sechs Uhr wird sie wieder trainieren.
Autor: Marc Schlömer
Stand: 20.07.2019 19:45 Uhr
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