So., 06.03.16 | 19:20 Uhr
Das Erste
Türkei: Schlepper, Schlauchbootfabrikanten und Flüchtlinge
Seit Jahresbeginn kontrollieren türkische Polizisten verstärkt Küstenstraßen und Strandabschnitte am Mittelmeer. Offensichtlich ist das Bemühen der türkischen Behörden, Flüchtlinge daran zu hindern, nach Griechenland zu gelangen. Doch noch immer finden Schlepper ihre illegalen Wege. Schlauchboote voll mit Migranten legen nun überwiegend nachts ab. Eine regelrechte Schleuserindustrie ist an der türkischen Ägäis entstanden mit Hunderten von kleinen Fabriken, die Schlauchboote und Schwimmwesten herstellen.
Eine Reportage von ARD-Korrespondent Oliver Mayer-Rüth (ARD Istanbul)
Verkehrskontrollen an einer türkischen Landstrasse auf dem Weg zur Küste. Die Polizei bemüht sich seit Jahresbeginn verstärkt, die Flüchtlingsbewegung Richtung Griechenland einzudämmen. Vor allem Minibusse sind im Fokus der Gendarmerie. Offenbar eines der wichtigsten Reisemittel der Flüchtlinge. Auch am Strand patrouilliert die Polizei. Überall findet man Spuren der Schlepper und ihrer Kunden. Wenn Schlauchboote mit Flüchtlingen ablegen, dann nachts. Nur das Nötigste können sie mitnehmen. Die Behörden dürfen keine Interviews geben. Dafür glaubt dieser Angler den Grund zu kennen, warum inzwischen soviel kontrolliert wird. "Es gibt ja offenbar eine Übereinkunft mit Deutschland und der Bundeskanzlerin Merkel. Drei Milliarden Euro sollen kommen, damit die Flüchtlinge nicht nach Europa weiterziehen, sondern hier bleiben. Das wird wohl der Grund sein, weshalb die Gendarmerie ständig kontrolliert."
Razzia in der Schlauchboot-Werkstatt
Bilder, die vor Kurzem im türkischen Fernsehen gezeigt wurden. Eine Razzia in der Küstenstadt Izmir. Polizisten in der Werkstatt eines Schlauchbootherstellers. Auch diese Aktion soll zeigen, dass es die Türkei ernst meint mit dem Kampf gegen die Schleusermafia. Eine Sisyphusarbeit, denn an der türkischen Küste soll es weit über hundert solcher Schlauchbootwerkstätten geben. Nach langem Suchen dürfen wir in dieser Werkstatt filmen. Der Chef erklärt uns, hier gehe alles ordentlich zu. Erkannt werden wollen er und seine Mitarbeiter jedoch nicht. Er sagt, die Mafia hätte ihn bedroht und gezwungen Schlauchboote für das Schleusen von Flüchtlingen und Migranten zu bauen. Immerhin, seine Produkte seien Qualitätsarbeit. "Meine Boote kosten 1.500 Dollar. Und ich gebe drei Jahre Garantie. Mehr als die Chinesen."
Durch das illegale Schleusen ist eine regelrechte Industrie an der türkischen Ägäisküste entstanden. Tausende verdienen an der Flucht vor Bomben und Armut. Ihre Kunden wohnen nicht mehr in wilden Flüchtlingslagern an der Küste. Denn die türkische Polizei hat diese aufgelöst. So sind sie weitergezogen in Baracken und Zelte wenige Kilometer im Landesinneren und warten dort auf ihre Chance, doch noch mit einem der Schlepperboote nach Griechenland zu kommen. Hier in der Nähe der Küstenstadt Foca leben etwa 100 syrische Flüchtlinge. Sie arbeiten auf den umliegenden Feldern eines türkischen Bauern. Am Tag bekommen sie etwa 15 Euro.
Für 1.000 Dollar nach Griechenland
Einer von ihnen ist Khalil aus Syrien. Er würde lieber heute als morgen die Türkei verlassen. "Ich habe in Syrien studiert. Dann bin ich wegen der Bomben in die Türkei geflohen. Ich will nach Europa. Dort ist ein Menschenleben mehr wert, als hier. Und dort könnte ich weiter studieren." Khalil sitzt fest, denn auf der Flucht ist ihm das Geld ausgegangen. Im Schnitt kostet die Fahrt nach Griechenland 1.000 Dollar. "Zur Zeit ist das nicht so einfach. Viele Polizeikontrollen. Die unruhige See und man kommt von Griechenland nicht ohne weiteres nach Mitteleuropa."
So entscheiden sich inzwischen immer mehr Syrer in der Türkei zu bleiben, wie Khalils Freund Hamza. "Bis letztes Jahr dachte ich noch darüber nach, auch nach Europa zu gehen. So wie die anderen mit einem Schlauchboot über das Meer. Doch dabei ertrinken viele oder sie werden am Ufer ausgeraubt. Ich bleibe deshalb lieber hier." Hamza kennt wie alle hier die grausamen Bilder der Ertrunkenen. Es sollen inzwischen Hunderte an der türkischen Ägäisküste sein. So gibt es immer mehr kleine Friedhöfe für Flüchtlinge und Migranten, die es mit den Schlauchbooten nicht geschafft haben. Es sind die Väter und Mütter, die die Hoffnung auf eine besser Zukunft hatten und deren Kinder, die nicht einmal den ersten Geburtstag feiern konnten.
Stand: 07.03.2016 12:32 Uhr
Kommentare