So., 12.05.19 | 19:20 Uhr
Das Erste
Türkei: Shootingstar Imamoglu – Konkurrent für Erdogan?
Ekrem Imamoglu weiß um die Macht dieser Bilder. Eine religiöse Familie hat ihn zum Fastenbrechen eingeladen. Er spricht das Tischgebet. Konservative Türken schätzen es, dass Imamoglu den Islam hochhält. Das macht den Oppositionspolitiker und erneuten Bürgermeisterkandidat der Metropole Istanbul für bisherige Anhänger der Erdoganpartei AKP wählbar, obwohl er für die säkular geprägte Mitte-Links-Partei CHP antritt.
Wir treffen Imamoglu im Istanbuler Stadtteil Beylikdüzü. Hier war er die letzten fünf Jahre Bezirksbürgermeister. Er zeigt uns die Bibliothek des Kulturzentrums, das unter seiner Ägide gebaut wurde. Studenten wollen sofort Fotos mit dem politischen Shooting Star. Imamoglu, so sagen Beobachter, verbinde die moderne, westlich orientierte Türkei mit den Werten konservativer, islamisch geprägter Familien: "Ich weiß, wie das ist. Mein Lebensstil ist dem dieser Familien sehr ähnlich. Da geht es um das Privatleben. Ich weiß, was die fühlen. Aber ich sage auch immer, man soll das Privatleben und die Politik trennen. Ich bin eben so wie sie."
Erdogan vs. Imamoglu
Auftritte des türkischen Staatspräsidenten sehen anders aus: Eröffnung der größten Moschee der Türkei. Erdogan hat diese in Istanbul hoch oben auf einen Hügel bauen lassen, so dass jeder sein Werk sehen kann. Einst war er selbst Oberbürgermeister der Stadt am Bosporus und suchte das Bad in der Menge. Jetzt wirkt er unnahbar, weit weg von den einfachen Menschen.
Akif Beki war mehrere Jahre Erdogans Medienberater. Bisher, so Beki, habe es der AKP-Chef immer wieder geschafft, Mitte-Links-Konkurrenten als Gegner des konservativen, religiösen Lagers zu stigmatisieren. Das sei bei Imamoglu jedoch nicht mehr möglich: "Seine Sprache, seine Aussagen, seine Familie, das soziale Umfeld aus dem er kommt: für Konservative ist er keine Bedrohung. Er hat keine Möglichkeit gegeben, ihn als Bedrohung für das konservative Klientel darzustellen."
Bürgermeister auf Widerruf
Dennoch oder vielleicht gerade deshalb waren die letzten sechs Wochen für den 48-Jährigen eine politische Achterbahn: Am 31. März finden in der Türkei Kommunalwahlen statt. Es kommt zum Kopf an Kopf-Rennen mit Binali Yildirim, dem Kontrahenten der Erdoganpartei AKP. Spät in der Nacht macht der türkische Staatspräsident in Ankara überraschend Andeutungen, dass sein Lager die Millionenmetropole Istanbul an die Opposition verloren haben könnte. Am nächsten Tag verkündet der Hohe Wahlrat, Imamoglu liege mit mehr als 20.000 Stimmen vor Yildirim. Ein politisches Erdbeben für Erdogan und die AKP. In Istanbul leben etwa ein Fünftel aller Türken. Das gesamte Finanzvolumen der Stadtverwaltung liegt bei geschätzten zehn Milliarden Euro pro Jahr. Erdogan und seine Partei konnten mehr als 20 Jahre aus dem Vollen schöpfen.
17. April: Tausende kommen zum Rathaus. Sie feiern Imamoglus Ernennung zum Oberbürgermeister. Es scheint, der Oppositionskandidat habe sein Ziel erreicht. Doch die von Erdogan kontrollierten Fernsehsender zeigen lieber, wie ein mit türkischem Kapital finanziertes Unternehmen Erdogans Frau Emine in London einen Preis verleiht.
In den ersten Tagen seiner Amtszeit macht Imamoglu eine aus seiner Sicht ungeheuerliche Entdeckung: "Die Mitarbeiter der Stadtverwaltung wurden eingeschüchtert. Es gibt zahlreiche hochrangige Manager, die nicht für Istanbul arbeiten, sondern nur einer Person hudligen müssen. Diese Menschen bringen der Stadt Istanbul keinen Nutzen. Wir haben eine ungeheuere Verschwendung des Budgets festgestellt."
Vergangenes Wochenende – Imamoglu ist gerade Mal 17 Tage im Amt – fordert der türkische Staatspräsident, die Wahl in Istanbul müsse annulliert werden, denn es habe Unregelmässigkeiten gegeben. Und so geschieht es: Zwei Tage später kommt der Hohe Wahlrat der Forderung nach. Von insgesamt elf Richtern entscheiden sieben eine Neuwahl für den 23. Juni. Noch in der Nacht hält Imamoglu vor seinen aufgebrachten Anhängern in Istanbul eine flammende Rede und macht den sieben Richtern heftige Vorwürfe: "Jeder Politiker kommentiert das anders. Ich sehe die Entscheidung als Verrat, als einen Putsch gegen die Demokratie."
Jetzt muss Imamoglu ein zweites Mal gegen Erdogan und seine AKP im Kampf um Istanbul gewinnen – keine leichte Aufgabe. Sollte er die Wähler noch einmal überzeugen können, dann sehen ihn bereits einige seiner Anhänger als den möglichen zukünftigen Staatspräsidenten der Türkei.
Autor: Oliver Mayer-Rüth, ARD Istanbul
Stand: 13.05.2019 11:33 Uhr
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