So., 21.05.23 | 18:30 Uhr
Das Erste
Türkei: Rechtsruck nach den Wahlen?
Die Anhänger des ausgeschiedenen rechten Kandidaten Sinan Ogan könnten für die anstehende Präsidentschafts-Stichwahl entscheidend sein. Schon jetzt kommen auch von Erdogan-Herausforderer Kilicdaroglu scharfe Töne in der Flüchtlingspolitik.
Für die Stichwahl werden nationalistische Wähler mobilisiert
"Du hast die Grenzen deines Landes und seine Ehre nicht geschützt, hast 10 Millionen Flüchtlinge ins Land gebracht. Sobald ich an die Macht komme, verspreche ich: Ich werde alle Flüchtlinge nach Hause schicken. Punkt!" Auszüge aus dem neuesten Wahlwerbespot von Kemal Kilicdaroglu. Es ist der Versuch, dringend benötigte Stimmen im Kampf um das Präsidentenamt zu gewinnen. Ein Strategiewechsel: Vor einigen Wochen waren die Themen noch stark auf gesellschaftliches Miteinander und auf eine Rückkehr zum Rechtsstaat und zur Demokratie fokussiert – nun scheint damit erstmal Schluss. Jetzt zur Stichwahl geht es vor allem darum, nationalistische Wähler zu mobilisieren, sagt Burak Copur, Politikwissenschaftler an der Hochschule Essen. "Also in der Türkei trifft das, was Kilicdaroglu jetzt propagiert, nämlich seine Anti-Flüchtlingskampagne, einen Nerv, auch bei jungen Menschen, denn es gibt eine hohe Flüchtlingsfeindlichkeit grade in der jungen Bevölkerung und das versucht gerade Kilicdaroglu ein wenig aufzufangen."
Tatsächlich haben in der türkischen Gesellschaft Vorbehalte gegen die mehr als vier Millionen syrischen und afghanischen Flüchtlinge stark zugenommen. Beobachter erklären auch dadurch den deutlichen Zulauf, den nationalistische Parteien bei den Wahlen verzeichnen konnten. Türkei-Experte Burak Copur spricht von einem deutlichen Rechtsruck. "Rechnet man beispielsweise die pro-kurdische HDP, die türkische Arbeiterpartei und die kemalistisch-links-nationalistische CHP mal wohlwollend heraus, dann haben wir eine Mitte-rechts bis Rechts-extremistisch-islamistische Parteienlandschaft im türkischen Parlament von über 400 Sitzen von insgesamt 600 Sitzen."
Viele fordern eine restriktivere Flüchtlingspolitik
Passend dazu auch der neue Alterspräsident des türkischen Parlaments: Devlet Bahceli. Der Wolfsgruß ist das Erkennungszeichen seiner rechts-nationalistischen Partei MHP, dem engsten Bündnispartner Erodgans. Bahcelis Partei holte entgegen allen Umfragen rund 10 Prozent und wurde damit dritt-stärkste Kraft. Nationalisten sitzen nun in allen Lagern: Auch im 6er-Bündnis der Opposition, mit Meral Aksener und ihrer IYI-Partei. Sie brachte wichtige Stimmen aus dem nationalistischen Lager mit ins Bündnis der CHP. Doch für einen Sieg über Erdogan reichte das immer noch nicht. Es braucht wohl einen weiteren Nationalisten mit an Bord: Sinan Ogan. Er ging als dritter Kandidat in die Präsidentschaftswahl und kam auf mehr als fünf Prozent. "Sinan Ogan ist jetzt natürlich auch ein wichtiger Player in der Gesamtkonstellation", so Burak Copur. "Und man macht ihm ja jetzt sozusagen auch Angebote, wie z.B. Ministerposten, aber auch andere lukrative Angebote, um ihn mit ins Boot der Opposition zu ziehen."
Ogan knüpft seine Wahlempfehlung an Bedingungen. Die eine: Syrer aus dem Land zu werfen. Die andere: "Wer mit uns zusammenkommen will, der muss sich klar dazu bekennen, keinerlei Zugeständnisse an die HDP zu machen." Die pro-kurdische HDP unterstützt indirekt Kilicdaroglu – indem man keinen eigenen Kandidaten für die Präsidentschaftswahl aufstellte. In Städten wie dem mehrheitlich kurdisch bewohnten Diyarbakir erhielt Kilicdaroglu gar 72 Prozent. Bisher sieht vieles danach aus, dass ihn die Kurden auch in der Stichwahl unterstützen. Denn für viele steht die Abwahl Erdogans an oberster Stelle. Dass Kilicdaroglu es schafft, Erdogan nach 20 Jahren von der Spitze des Landes zu stoßen, daran zweifeln nicht wenige – unabhängig davon wie nationalistisch der Wahlkampf in der Türkei in den kommenden Tagen noch werden könnte.
Autorin: Katharina Willinger
Stand: 22.05.2023 07:43 Uhr
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