Mo., 10.04.17 | 04:50 Uhr
Das Erste
Türkei: Evet oder Hayir – Ja oder Nein
Mit vollem Einsatz kämpft die islamisch-konservative Regierung für ein Ja! Tennisplatzgroße Plakate werben buchstäblich flächendeckend in den Stadtzentren für Erdogan und seine Ziele! Täglich zwei bis drei Mal spricht der Präsident. Jede dieser bis zu zweistündigen Reden wird in einer anderen Stadt gehalten. Übertragen werden sie fast alle – auf allen Fernsehkanälen gleichzeitig.
Mission fürs "Nein!"
Zentralanatolien: Für Nein-Sager ist es nirgendwo schwieriger. Fikret Günes, Bora Serdar und Nahsu Bektas sind gegen Erdogans Machtanspruch. Die ehemaligen Generäle haben sich einer heiklen Mission verschrieben: "Wir wollen die überzeugen, die Ja zur Verfassungsänderung sagen. Wir wollen von ihnen wissen, warum sie Ja sagen. Und dann machen wir ihnen unsere Vorbehalte deutlich."
Die drei gehören zu einer Gruppe hochrangiger Ex-Soldaten. Sie wollen verhindern, dass der türkische Staatspräsident noch mehr Macht bekommt. Dafür gehen sie in den verbalen Nahkampf. Gruppenfoto neben dem Bus der gegnerischen Ja-Kampagne. Die Stadt Konya Ereyle gilt als Hochburg der Regierungspartei AKP.
Lange muss Fikret Günes nicht suchen, um überzeugte Erdogan-Anhänger zu finden, die die Einführung eines neuen Machtsystems gut finden. Ein Verkäufer argumentiert mit Zahlen: "Von 182 Ländern werden 96 mit Präsidialsystemen regiert. Die USA wird per Präsidialsystem regiert. Wenn das so schlecht wäre, dann würden die das doch auch nicht machen!"
Günes entgegnet: "Wir haben uns die geplante Verfassungsänderung angesehen: Da soll eine Person die ganze Macht bekommen. So etwas gibt es nicht einmal in den USA."
Der Verkäufer bleibt hart: "Wenn es nach mir geht, dann ist Erdogan der Einzige." Hier kommt der General nicht weiter.
Doch Günes ist keiner, der so schnell aufgibt. Er saß bis 2014 mehr als vier Jahre im Gefängnis. Die Regierung warf ihm die Planung eines Putsches vor.
Sinn des Referendums
Nächster Termin: Türkische Bauern. Sie haben Erdogan bisher immer gewählt. Hier kann Günes allerdings überzeugen. Ein Bauer beklagt sich: "Gestern kam der Landwirtschaftsminister: Sie haben Essen verteilt. Warum sind die gekommen? Die wollen Stimmen haben. Aber die Verfassungsänderung haben sie im Einzelnen nicht erklärt."
Ein anderer Landwirt sieht viel dringendere Probleme: "Uns Bauern geht es um die steigenden Preise. Wir müssen über die Probleme der Bauern reden. Es müsste eigentlich gar kein Referendum stattfinden."
Die Generäle sind zufrieden mit ihrer Nein-Kampagne. Sie finanzieren alles selbst, wie viele andere kleine zivilgesellschaftliche Initiativen in der Türkei. Damit hat Staatspräsident Erdogan wohl nicht gerechnet.
Erdogan-Fans in Diyarbakir
Erdogan persönlich zu erleben – in diesen Tagen ist das nicht schwer. Der Präsident tourt durchs ganze Land – sogar ins überwiegend kurdische Diyarbakir. Dort hat die 22-jährige Sidal Bat, Studentin für Ingenieurswesen, auf ihn gewartet. Wie fast alle hier ist Sidal Bat bekennender Erdogan-Fan: "Diese Wahlveranstaltung ist eine besondere Zusammenkunft! Zehntausende sind gekommen, weil sie an eine strahlende Zukunft glauben!"
"Ja! Ja! Ja!" peitscht Erdogan seinen Zuhörern in Diyarbakir ein – und löst damit Begeisterung aus: „Die Nein-Sager bekommen ihre Befehle nicht vom Volk! Die CHP bekommt ihre Anweisungen aus Pennsylvania. Und die anderen hören auf Terroristen in den Kandill-Bergen!"
Nein-Sager als Terroristen – Sidal Bat und ihre Umgebung scheinen diese Sicht zu teilen: "Alle glauben letztlich an das Präsidialsystem! Wir aber glauben auch an Recep Tayyip Erdogan persönlich! Wir vertrauen ihm!"
Am Ende von Erdogans Auftritt bilden sich spontane Chöre. Sie rufen: "Wenn Du es sagst, werden wir sterben! Wenn Du es sagst, werden wir schlagen!" Sätze, die in einer Türkei vor einer wichtigen Entscheidung auch beunruhigen können...
Autoren: Michael Schramm und Oliver Mayer-Rüth, ARD Istanbul
Stand: 14.07.2019 09:43 Uhr
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