Mo., 12.09.16 | 04:50 Uhr
Das Erste
Türkei: "Säuberungen" im Reiche Erdogans
Applaus für Professor Hakan Koçak und dann deutliche Worte über die türkische Regierung: "Nicht wir müssen uns schämen, sondern die."
Hakan ist einer von 19 Wissenschaftlern der Kocaeli-Universität, die vergangenen Mittwoch ihren Platz räumen müssen. Kollegen, Mitarbeiter, Studenten – sie alle sind gekommen, um ihre Solidarität auszudrücken. Kein einziger der entlassenen Wissenschaftler gehöre der Organisation des Islampredigers Fetullah Gülen an, sagen sie und zeigen sich schockiert, denn genau das wird ihnen offenbar vorgeworfen. Die türkische Regierung beschuldigt die Gülen-Bewegung für den Putschversuch im Juli.
Abschied von der Universität
Ein letzter Moment mit der Tochter in seinem Büro, dann ist es Zeit zu gehen. Vor der Universität geben die Wissenschaftler noch eine Erklärung für die Medien: "Ich frage hier, welcher Terrororganisation gehöre ich an? Alle wissen, dass wir nicht der Gülen-Bewegung angehören. Wurde jetzt eine neue Terrororganisation einfach erfunden? Das alles ist großes Unrecht!"
Während tausende Gülen-Anhänger nun im Gefängnis sitzen, hat die Staatsanwaltschaft keinen der Professoren wirklich angeklagt. Sie kommen sich vor, wie in einem Labyrinth oder in einem Roman Franz Kafkas.
Zwei Tage zuvor beraten sie gemeinsam, wie sie die Kündigung abwenden können. Sie sprechen über das Einschalten von Anwälten. In ihren Gesichtern Hoffnungslosigkeit. Am 1. September hat die Regierung das Dekret 672 erlassen. In der Folge werden mehr als 2000 Akademiker aus dem öffentlichen Dienst gekündigt, weil sie den Putschversuch im Juli beziehungsweise die inzwischen von der Regierung als Terrororganisation eingestufte konservativ-islamische Gülen-Bewegung unterstützt haben sollen.
Säkular und modern - ein Auslaufmodell?
Koçak zeigt uns sein Zuhause, auch um deutlich zu machen, dass er nichts mit der konservativ-islamischen Gülen-Bewegung zu tun hat. Der Professor betont, seine Frau und er erziehen die Tochter säkular und modern. Gleichzeitig machen sie sich Sorgen um die Kleine, denn die Türkei würde immer religiöser, also islamischer werden: "Unser Lebensstil ist ein ganz anderer, als der von Gülen-Anhängern. Sie sehen Gülen als Propheten. Wir sind jedoch freie Menschen. Ich laufe niemandem hinterher. Wir leben offen. Alles; was wir denken, sprechen wir offen aus oder veröffentlichen es. Die Gülen-Anhänger hingegen verheimlichen, was sie eigentlich denken."
Appell gegen den Krieg
Und dann erklärt er uns, warum er aus seiner Sicht eigentlich entlassen wurde: Das alles hätte nichts mit einer Mitgliedschaft in einer Terrororganisation zu tun, so Koçak. Im Januar unterschrieb er mit mehr als 2000 anderen türkischen Wissenschaftlern einen Friedensappell mit der Forderung an die Regierung, die Kämpfe in den Kurdengebieten zu beenden und Verhandlungen mit der als Terrororganisation eingestuften PKK zu beginnen: "Über Wochen und Monate hinweg kamen aus dem Südosten schreckliche Bilder, vor allem diese Fotos von Kinder und Frauen. Eine Kinderleiche konnte nicht beerdigt werden. So wurde diese in einer Kühltruhe gelagert. Nicht nur ich, viele waren verstört, weil wir nichts tun konnten. Schließlich haben wir Wissenschaftler miteinander diskutiert und sind zu dem Punkt gekommen, dass wir keine Schuld auf uns laden wollen. Deshalb haben wir das unterschrieben."
Das sei der wirkliche Grund für die Entlassungen in den Universitäten, so Koçak, und vielleicht auch, weil die Regierung Forschung und Lehre mehr und mehr auf Linie bringen will.
Vergangenes Wochenende in Istanbul. Mehrere Tausend sind gekommen, um gegen den Putschversuch der Gülenbewegung zu demonstrieren. Aber auch um deutlich zu machen, dass die Säuberungsmaßnahmen der Regierung zu weit gehen. Professor Koçak weiß bereits, dass seine Entlassung aus dem öffentlichen Dienst nicht mehr abzuwenden ist. Erst wirkt er zaghaft, doch dann nimmt er auf der Bühne kein Blatt vor den Mund: "Sie haben uns Untersuchungsakten vorgelegt und gefragt, ob wir unser Handeln bereuen. Kinder sollen nicht sterben, Frauen sollen nicht sterben, Soldaten sollen nicht sterben! Sollen wir bereuen, dass wir das gesagt haben? Nein, das bereuen wir sicherlich nicht!"
Beseitigung der Opposition
Auch Selatim Demirtas, Chef der Kurdenpartei HDP, nimmt an der Veranstaltung teil: "Es ist eine Schande, dass Wissenschaftler. nur weil sie eine Erklärung unterschrieben haben, mit Putschisten gleichgestellt und dann aus ihren Berufen entlassen werden!"
Koçak sagt, er bereue nichts. Die Regierung hätte ihn und seine Kollegen grundlos mit Gülen-Terroristen in eine Schublade gesteckt. Und vielleicht komme es noch schlimmer: "Das Dekret könnte der Anfang eines schrecklichen Weges für uns sein. Es ist ein Dekret, das dafür sorgen kann, dass die gesamte Opposition aufgelöst werden könnte."
Die türkische Regierungspartei AKP wollte sich zu den Hintergründen der Entlassung des Wissenschaftlers gegenüber der ARD nicht äußern.
Autor: Oliver Mayer-Rüth, ARD Istanbul
Stand: 12.07.2019 18:02 Uhr
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