So., 29.10.23 | 18:30 Uhr
Das Erste
Türkei wird 100 – Grund zum Feiern?
Nermin Abadan Unat empfängt uns in ihrem Arbeitszimmer. Ein Sammelsurium der Geschichte: Denn die Frau, die uns empfängt, ist 102 Jahre alt und damit zwei Jahre älter als die Türkische Republik. Als Tochter einer Deutschen und eines Türken wird Nermin Abadan Unat in Wien geboren. Als junges Mädchen trennen sich die Eltern, mit der Mutter zieht sie nach Budapest. Doch die Mutter wird spielsüchtig, die Tochter will weg, und liest eines Tages einen Zeitungsartikel. "Sie fragen: Was hatte ich über die Türkische Republik gehört? Also für mich war wichtig, was machen sie mit den Kindern? Ich habe an mich selbst gedacht. Ich hatte gelesen, dass in die Schule zu gehen, ist unentgeltlich", erzählt Nermin Abadan Unat.
Veränderungen in der jungen Türkischen Republik
Staatsgründer Atatürk hatte sich die Förderung der Wissenschaft zur Aufgabe gemacht. Sein Ziel: Bildung bis in die entferntesten Ecken der jungen Republik bringen. Dazu zählte auch ein kostenloser Zugang zu den Universitäten, an die er viele ausländische Professoren holte – viele davon flüchteten aus einem Europa unter den Nazis. Nermin Abadan Unat macht sich als 14-jährige allein auf den Weg von Budapest nach Istanbul – mit dem Orientexpress. Sie lernt türkisch, macht ihr Abitur und schreibt sich an der Uni für Rechts- und Politikwissenschaften ein: "An der Uni waren viele Jungen, aber kaum Mädchen. Und die Jungs sind alle den 5,6 Mädchen, also die sind uns ständig hinterhergelaufen und wollte uns kennenlernen und mit uns sprechen." Frauen an der Uni – damals noch eine Seltenheit. Doch Atatürk hat das klare Ziel Frauen auszubilden und in die Geschicke des Landes einzubinden. Nermin Abadan Unat ist eine davon: Sie macht ihren Abschluss, promoviert und wird eine der ersten Professorinnen des Landes. Frauenrechte - und Gleichstellung werden ihr Lebensthema.
Ankara. Seit 1923 die Hauptstadt der Türkei. Hier gibt es heute über 20 Universitäten. Der Frauenanteil liegt mittlerweile bei über 50 Prozent. Hier forscht und arbeitet Deniz Sapaz. Die 24-Jährige hat vor kurzem mit Kommilitonen ein Start-Up gegründet: sie arbeiten an Düngemittel ohne Chemie – ein Projekt mit Zukunft. Doch die Förderung ihres Vorhabens hält sich in Grenzen. "Es wird einem hier in der Türkei nicht leicht gemacht. Manche Vorhaben sind kaum zu erreichen. Vielleicht weil unsere Freiheiten beschränkt sind. Hier bei den Naturwissenschaft ist es etwas leichter, aber bei den politischen Fakultäten sicher nicht", erzählt sie. Viele ihrer Kommilitonen sind bereits ins Ausland gegangen. Zurzeit verliert die Türkei immer mehr gut ausgebildete, Menschen. Immer weniger Freiheiten, kaum Perspektiven. "Im Allgemeinen sind die Menschen, die gehen, nicht wirklich glücklich darüber. Sie gehen ja meist nach einem psychischen Zusammenbruch. Aber sie denken, dass sie hier ihre Arbeit nicht richtig machen können, sie fühlen sich in diesem Land einfach nicht mehr verstanden", sagt Deniz Sapaz.
Heute schlägt die Türkei eine andere Richtung ein
Nach dem Putschversuch 2016 kommt es in der Türkei zu mehr als 100.000 Verhaftungen. Zehntausende Beamte verlieren ihren Job, aber auch Ärzte und Akademiker. Selbst Studierende geraten immer wieder ins Visier. Der Staat will Andersdenkende und Kritiker mundtot machen, politische Gegner landen reihenweise im Gefängnis. "Also Freiheit und Demokratie unter Erdogan – die zwei kommen nicht zusammen, gar nicht. Unter Atatürk wurden auch Leute... verfolgt würde ich nicht sagen, aber angeklagt. Aber niemals ist Freiheit und Demokratie so bedroht gewesen wie heute in der Türkei", findet Nermin Abadan Unat.
Bis heute verfolgt die 102-jährige die Nachrichten im Land – und schüttelt oft den Kopf. Wofür sie und andere Frauen in der Türkei jahrzehntelang kämpften, baut die aktuelle Regierung unter Erdogan systematisch ab, propagiert ein konservatives Frauenbild. Die Professorin hat eine klare Meinung dazu: "Mich ärgert das überhaupt nicht, weil ich gar keine Rücksicht nehme, was er will. Das geht mich nicht an." Stattdessen versucht sie junge Frauen zu motivieren. Frauen wie Deniz, die junge Wissenschaftlerin. Die beiden kennen sich, denn Deniz gewann vor einiger Zeit den Nermin Abadan-Unat-Preis für einen Aufsatz zum Thema Gleichberechtigung. "Sie hielt nach der Preisverleihung meine Hand fest und sagte mir: Gehen sie bitte nicht von hier weg! Das war sehr bewegend für mich. Menschen wie sie geben mir bis heute die Kraft, hier weiterzumachen", erzählt Deniz Sapaz.
Nermin Abadan Unat hat einen Wunsch für die Türkische Republik, auf die sie trotz aller Höhen und Tiefen stolz ist: "Die Türkei soll sich nach Europa wenden. Und mit Europa zusammen sein. Wir sind mehr europäisch, als sie sich vorstellen."
Autorin: Katharina Willinger / ARD Istanbul
Stand: 29.10.2023 19:28 Uhr
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