So., 29.10.23 | 18:30 Uhr
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Ukraine: Neustart in Saporischschja
Der Friedhof von Saporischschja. Täglich kommen neue Gräber dazu. Natalia Olshanska möchte uns das Grab ihres Sohnes Danya zeigen. Danya hatte sich einem freiwilligen Battallion angeschlossen. Er starb, als sowjetische Panzer auf seine Stellung zurollten. Sechs Monate lang war Natalia täglich hier an seinem Grab, hat um ihren Sohn getrauert: "Dann wurde mir klar, Danya würde mich nicht in Tränen und Schmerzen sehen wollen, weil er immer so positiv war. Und ich habe mich in die Arbeit gestürzt und in meine Familie. Das hat mich gerettet."
Eine Unternehmerin mit Durchhaltevermögen
Natalia lebt in Saporischschja – einst sozialistische Idealstadt – gebaut nach stalinistischen Bauplänen. Eine Prachtstraße führt mitten durch die Stadt. Früher haben die Menschen hier von der Rückkehr der Sowjetunion geträumt, jetzt sei die Stadt Symbol des Widerstandes gegen den russischen Angriff, erklärt uns die Unternehmerin Natalia Olshanska: "Die Menschen haben verstanden, dass alles, was jetzt passiert, eine Folge des sowjetischen, großrussischen Patriotismus ist. Die Russen haben schon immer versucht, uns zu zerstören, von der Sprache bis zum Völkermord."
Doch sie werden uns nicht unterkriegen, meint Natalia. Im letzten Jahr hatten russische Soldaten bei ihrem Vormarsch Natalias Betrieb, östlich von Saporischschja, weitestgehend zerstört. Die Familie konnte fliehen. Und obwohl die Front nur gerade mal 30 km entfernt ist, hat Natalia entschieden das Unternehmen hier wieder neu aufzubauen. Eine Herausforderung. Es ist nicht einfach, neue Arbeitskräfte zu finden. "Es hat hier viel Vertreibung gegeben. Viele Anwohner haben Saporischschja verlassen, an ihrer Stelle leben jetzt Binnenvertriebene. Aber das sind nicht unbedingt Menschen mit der passenden Ausbildung, die voll eingesetzt werden könnten, sondern im Gegenteil, sie brauchen Unterstützung", erklärt die Unternehmerin.
Das kleine Familienunternehmen stellt Ökoprodukte her .Ihre Verkaufsschlager: Marmeladen, Essriegel und Säfte aus der Kornelkirsche, eine Frucht, die sehr Vitamin-C-haltig ist. Ihr Geschmack eine Mischung aus Crème brûlée und Maracuja. In der Ukraine ist die Frucht weitverbreitet, gelte als traditionelles Hausmittel gegen Erkältungen, erklärt Natalias Mann: "Früher, als hier die Heiler durch die Lande zogen, machten sie einen Bogen um die Dörfer, in denen Sträucher mit Kornelkirschen wuchsen, denn sie glaubten, dass die Menschen dort nicht krank werden und keine Ärzte brauchen." "Wir haben uns zum Ziel gesetzt, die Kornelkirsche allen Menschen auf der Welt näher zu bringen, damit sie gesund und vielleicht auch länger leben können", sagt Natalia Olshanska.
Ein Familienunternehmen, das trotz Krieg weiter bestehen soll
Langfristig setzen die beiden auf den Export ihrer Bioprodukte. Doch jetzt geht es erst einmal darum, in der Ukraine wieder Fuß zu fassen. Keine leichte Aufgabe. "Wir haben jetzt weniger Umsatz, denn viele Menschen sind weg oder haben kein Geld. Und unsere Produkte sind hochwertig und nicht gerade billig", sagt Sergej Olshanskyi. Auch wenn hier jeden Tag mehrmals Luftalarm herrscht, ihre Angestellten wollen bleiben. "Nun wir haben uns einfach daran gewöhnt. Ich möchte mein Land auf keinen Fall verlassen. Früher haben wir überhaupt nie darüber nachgedacht, wie sehr wir unser Land lieben", sagt Arbeiterin Olena Shaman.
Oft schauen sie sich alte Videos an, denn zu ihren ehemaligen Plantagen – östlich von Saporischschja – kann die Familie nicht mehr kommen. Dort ziehen sich jetzt die Minengürtel der Russen – auch Drachenzähne genannt – quer durch das Dorf. Bei einem der russischen Angriffe im Sommer letzten Jahres verlor ihr Sohn Danya sein Leben. Ihm haben sie den Wiederaufbau ihres Unternehmens gewidmet. Später einmal soll Lisa, ihre Tochter, den Betrieb führen. Den Verlust ihres Bruders kann sie kaum ertragen: "Mein Bruder starb im Alter von 24 Jahren. Das hat uns gelehrt, im JETZT zu leben, Spaß zu haben. 30 Kilometer entfernt sterben Menschen. Es ist eine echte Hölle auf Erden. Und so freut man sich über jeden Tag, den man in seinem eigenen Bett aufwacht."
Der Neuanfang in Saporischschja ist nach all dem, was die Familie erlebt hat, nicht leicht. Der Krieg und die Angst, um den Zustand des benachbarten Atomkraftwerks – 50 km von hier entfernt – begleiten alles Denken und Handeln. "Das Thema kocht immer wieder hoch und sorgt für eine permanente Anspannung, aber man blendet es irgendwie aus, denn wir sind hier direkt an der Front und müssen mit der unmittelbaren Gefahr leben. Die Menschen, die damit nicht leben können, sind weggegangen. Nur die Widerstandsfähigsten sind geblieben", erzählt Natalia Olshanska.
So oft sie kann, kommt die Firmenchefin an diesen Ort, um aufzutanken: "Hier oben herrscht der Geist der Kosaken und man spürt ihre Stärke. Deshalb komme ich sehr oft hierher. Um die Luft zu spüren, die diese starken Menschen, unbesiegbare Krieger, geatmet haben." Die rebellischen Kosaken, denen die Freiheit über alles ging, heißt es. Das sei ihr Erbe, meint Natalia: "Als die sowjetischen Behörden damals den Damm bauten, hatten sie immer große Angst vor unserem Widerstand. Deshalb wurden während des Staudammbaus Russen hierhin umgesiedelt. So wollten sie den Willen der Kosaken brechen."
Und so schwebt auch jetzt wieder der Geist des Widerstandes über Saporischschja.
Autorin: Birgit Virnich / ARD Kiew
Stand: 29.10.2023 18:28 Uhr
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