So., 29.10.23 | 18:30 Uhr
Das Erste
USA: Juden und Palästinenser – zwei Welten in einer Stadt
Es war eine anstrengende Woche für die Rabbinerin. Jeden Tag die schrecklichen Nachrichten aus Nahost. Auch in ihrer Gemeinde bangen Menschen um Angehörige, die als Geiseln festgehalten werden. Dabei kämpft Rachel Timoner seit Jahren für den Ausgleich zwischen Juden und Palästinensern: "Krieg ist etwas Furchtbares. Wir müssen alles tun, um unschuldige Palästinenser zu retten. Genauso wie wir alles tun müssen, um israelisches Leben zu retten. Das ist entscheidend." "Wir Juden haben gerade das Gefühl, dass unsere Menschlichkeit nicht mehr gesehen wird. Es ist eine extrem schwierige Zeit, wenn einem beide Völker am Herzen liegen – und sich alle nur auf eine Seite schlagen."
Dieser Shabatt soll ein besonders fröhlicher sein – sie feiern Bar Mitzwa, die Firmung von zwei Teenagern. Doch seitdem Unbekannte pro-palästinensische Sprüche vor die Synagoge gesprüht haben, ist die Stimmung so angespannt wie selten. "Ich hatte heute zum ersten Mal Angst, als ich zur Synagoge gegangen bin. Das ist doch verrückt, wir leben in New York, und ich habe das Gefühl, es ist wie in Osteuropa vor 100 Jahren", sagt Carmiel Frutkoff und Richard Saudek erzählt: "Viele, viele zwiespältige Gefühle. Das reicht von meinem Sozialleben, meiner Existenzangst bis zu der Frage, wie ich in die jüdische Gemeinde passe - oder auch nicht."
Das friedliche Miteinander ist gefährdet
1,6 Million Juden leben in New York, mehr als in Tel Aviv und Jerusalem zusammen. Und 35.000 Palästinenser, eine der größten Gemeinschaften in den USA. Zein Rimawi ist vor 42 Jahren nach seinem Studium in Ostdeutschland nach New York gekommen. In Bay Ridge hat der gebürtige Palästinenser seine sechs Kinder groß gezogen. Auch ihn plagen schlaflose Nächte und die Sorge um sein Viertel, das sie hier Klein Palästina nennen: "Alle sind frustriert, aufgebracht und wütend. Aber das heißt doch nicht, dass wir uns bekämpfen müssen. Wir leben hier zusammen, Muslime, Katholiken, Protestanten, Juden und kommen gut miteinander aus."
Der Krieg ist 9.000 Kilometer entfernt – und dennoch für viele so nah. Auch Mahmoud Kasem hat Verwandte in Gaza verloren. Seine Mutter hat es gerade noch rausgeschafft. Aber das dürfe doch nicht den Frieden hier in New York gefährden, einer Stadt, die in der mehr als 200 Sprachen gesprochen werden. "Ich habe viele jüdische Freunde hier. Als das Problem begann, haben sie mich angerufen. Gefragt, wie geht’s deiner Familie? Gut. Und ich genauso: Wie geht’s Dir? Alles Ok? Einige haben Verwandte in Ost-Jerusalem wie wir", erzählt Mahmoud Kasem, Besitzer des Al-Aqsa-Restaurant.
Mit jedem Tag Krieg wächst aber auch hier die Sorge um die Sicherheit. Einen ersten Übergriff hat es schon gegeben. Deshalb war die Polizei zu Besuch in Zains Gemeindezentrum. Wie für die Sicherheit im Viertel sorgen, wenn der Frust wächst? Auch Zein ärgert, dass viele Politiker:innen Israel uneingeschränkte Unterstützung versprechen und die palästinensische Zivilbevölkerung leidet: "Unser Bürgermeister ist auf der Seite der Israelis. Deshalb will keiner, der für die Stadt arbeitet, mit Muslimen in Verbindung gebracht werden. Fast genauso wie nach dem elften September. Vor allem bei denen, die staatliche Institutionen vertreten." "New York ist doch der Schmelztiegel. Und das stimmt. Aber wenn sie auf uns immer wieder wie auf einen Nagel einschlagen, dann wird das irgendwann zum Problem. Die Medien und unsere Politiker sind komplett einseitig und stellen alle Palästinenser und Araber als Kriminelle dar", erzählt Habib Joudeh.
Times Square, das pulsierende Herz der Multi-Kulti-Stadt, die ihre Diversität so gerne feiert. Und in der sich gerade jetzt Palästinenser und Juden alleingelassen fühlen mit ihrer Angst. Eine Gruppe von jungen jüdischen Aktivist:innen deckt eine Tafel – 224 Plätze, jeder steht für eine der Geiseln in Gaza. Na’ama Keha ist Filmemacherin, doch seit Beginn des Krieges engagiert sich die gebürtige Israelin rund um die Uhr für die Familien der Gefangenen: "Das Ganze hat uns geeint. Die linken und die rechten Juden arbeiten jetzt zusammen. Es ist traurig, aber es gibt auch Gutes. Manchmal kann Krieg eine Gemeinschaft zusammenschweißen, so sehr wie nichts anderes."
Eine Stadt, zwei Welten. Und nicht nur bei Na’ama und ihren Freunden wächst der Wunsch, den Hass zu überwinden.
Autorin: Marion Schmickler / ARD New York
Stand: 29.10.2023 19:27 Uhr
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