So., 10.04.22 | 18:30 Uhr
Das Erste
Ukraine: Die Bäckerinnen von Irpin
Ganze Wohngebiete sind zerstört
Volodimir zeigt uns, was von seiner Heimatstadt übriggeblieben ist. Wir sind in Irpin, einem der Vororte von Kiew, die am härtesten von den russischen Angriffen getroffen wurden. Jetzt dokumentiert er die tiefen Wunden, die der Krieg hier geschlagen hat. Fast 100.000 Menschen lebten einmal hier. Knapp viertausend sind es heute noch. Es sind die Ruinen eines apokalyptischen Krieges, der hier und in anderen Vororten Kiews gewütet hat. "Es wird lange dauern, bis diese Gebäude wieder aufgebaut sind. Aber die Leute können hier nicht zurückkehren. Es schnürt mir die Kehle zu. Gestern wurden hier die letzten Kinder weggebracht, die die Angriffe überlebt hatten. Wir werden das nie vergeben. Sie sollen in der Hölle schmoren." Die Angriffe der russischen Armee zerstörten ganze Wohngebiete. Wochenlang dauerten die Gefechte in Irpin. Für die Menschen, die es nicht aus der Stadt geschafft hatten, blieben nur die Luftschutzkeller. Volodimir zeigt uns die Überreste eines russischen Schützenpanzers. Überall in den Vororten Kiews sind diese eisernen Skelette dieses Krieges zu sehen. "Hier sehen Sie die krachende Niederlage der russischen Armee", sagt er.
Mehr als 200 Zivilisten wurden offiziell in Irpin getötet. Viele haben überlebt – auch deshalb, weil es Menschen gab, die sich Tag und Nacht darum kümmerten, dass hier niemand Hunger leiden musste. Tanja sei für ihn eine der Heldinnen dieses Krieges, sagt Volodimir. Rund um die Uhr hätte sie dafür gesorgt, dass die Menschen, die in den Vororten Kiews ausgeharrt hatten, etwas zu essen und zu trinken haben. "Wir haben all die Leute, deren Vorräte zu Ende gegangen sind, mit Lebensmitteln versorgt, in Bucha, Hostomel und all den anderen Vororten von Kiew. Und schauen Sie, das hier ist unsere Bäckerin, Lesja, die ich so sehr liebe." "Wir haben unser Bestes getan, glauben Sie mir", sagt Lesja. "Ohne Tanja wäre ich nie hiergeblieben, dieser wunderbare, liebevolle, hilfsbereite Mensch. Das sage ich hier jedem zu jeder Zeit."
Backen ohne Strom und fließendes Wasser – und draußen wird geschossen
Rund um die Uhr lief hier die Teigmaschine, während die Stadt draußen in Schutt und Asche gelegt wurde. Fast ohne Licht, ohne Strom und ohne fließendes Wasser haben sie hier Brot gebacken – mithilfe eines Dieselgenerators. Es grenze an ein Wunder, dass sie von den Angriffen nicht getroffen wurden, sagt Lesja. "Wir haben das Brot hier ohne Treibmittel gebacken – und mithilfe von Mineralwasser aus Flaschen, weil wir ja kein Wasser hatten. Die Leute waren so dankbar und das hat uns natürlich gefreut." Aber nicht nur Brot, auch Fisch haben sie hier geräuchert, auch für die ukrainischen Soldaten. Natürlich sei das nicht ungefährlich gewesen. "Als Lesja den Soldaten hier einmal die Tür öffnen wollte, um ihnen Wasser mitzugeben, versuchten russische Sniper uns zu erschießen", erzählt Tanja. "Die Patronenhülsen hat Lesja zur Erinnerung sogar aufgehoben. Ich hatte das wegen des lauten Generators gar nicht gehört, aber so wird alles gut ausgehen."
Draußen kommen neue Lieferungen an für die Bäckerei. Jetzt geht es darum, all die Menschen zu versorgen, die ohne Wasser, Strom und Heizungen in den zerstörten Vororten Kiews überleben müssen. Ich bin nicht hiergeblieben, um eine Heldin zu sein oder um Orden zu bekommen. Aber als die Bombardierungen anfingen und die Leute hier begannen für ein Brot Schlange zu stehen, da habe ich in ihre Augen geschaut. Und darin habe ich den Wert des Brotes gesehen." "Ihr seid meine Superfrauen", sagt Volodmir. Und vielleicht, sagt er noch, werde man den Bäckerinnen von Irpin ja auch mal ein Denkmal errichten.
Autor: Georg Restle
Stand: 10.04.2022 20:32 Uhr
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