So., 18.02.24 | 18:30 Uhr
Das Erste
Ukraine: Front oder Familie?
Für Uljana Lastivka war die Panorama-Brücke, im Zentrum von Kyiv, lange ein Ort des Wiedersehens. "Wo wir vor einem Jahr noch zusammen waren, spaziere ich heute alleine", erzählt die Ukrainerin.
Vor einem Jahr treffen wir Uljana gemeinsam mit ihrem Mann Ruslan. Der Bänker hatte sich mit Beginn des russischen Angriffskriegs für das Militär gemeldet, sie flüchtete mit den Kindern in den Westen Europas. Auf der Brücke in Kyiv ist die Familie zum ersten Mal seit über zehn Monaten vereint. Damals sagt Ruslan: "Wir kämpfen, damit Familien zusammen sein können und Städte unversehrt bleiben. Unser kleiner Traum ist, dass wir wieder ein normales Leben führen können. Wir wollen uns nicht nur einmal im Jahr sehen, sondern jeden Tag, so wie früher."
Diesen Traum hatte auch Uljana. Sie genießt damals jede Minute, die sie als Familie gemeinsam verbringen können: "Heute Morgen sind wir aufgewacht, mit Tränen in den Augen. Weil uns klar wurde, dass wir nur noch diesen einen Tag haben, um zusammen zu sein. Wir haben gemischte Gefühle. Natürlich freuen wir uns sehr, dass wir uns gesehen haben, aber wir werden wieder für einige Zeit getrennt sein müssen und werden uns gegenseitig aus der Ferne unterstützen."
Eine schwerwiegende Entscheidung
Doch der Krieg hat sie für immer getrennt: Im November erreicht Uljana die Nachricht, dass Ruslan bei Awdijiwka, in der Ostukraine, von russischen Soldaten getötet wurde. "Ich war auf alles vorbereitet. Dass er ohne Beine zurückkommt, ohne Arme, mit einem anderen Gesicht. Aber ich war nicht darauf vorbereitet, dass er stirbt", erzählt sie.
Zu begreifen, dass ihre große Liebe nicht mehr lebt, fällt ihr schwer. Wenn sie Kaffee kocht, macht sie immer auch einen Becher für Ruslan. In der gemeinsamen Wohnung hat Uljana einen kleinen Altar für ihn aufgebaut. Sie ist alleine nach Kyiv gekommen. Ihre beiden Kinder sind mit der Oma in Irland. Ob Uljana dauerhaft dorthin zurückkehrt, weiß sie noch nicht. Sie steht vor der schwersten Entscheidung ihres Lebens: "Seit Beginn des Angriffskriegs hatte ich den Gedanken und den starken Wunsch, als Sanitäterin zu helfen. Ich bin von Beruf Krankenschwester, habe in der Chirurgie gearbeitet, im Operationssaal assistiert und sehr viel Erfahrung. Und ich möchte wirklich, auch jetzt, nach seinem Tod, in die Medizin zurückkehren, in die Chirurgie – vielleicht als Paramedic."
Sie will im Abwehrkampf gegen Russland einen Unterschied machen. Paramedics – also Einsatzsanitäter – versuchen die Leben schwer verwundeter Soldaten an der Front zu retten. So wie hier, in der Nähe von Awdijiwka. Es ist ein notfallmedizinische Versorgung mit eingeschränkter Ausrüstung, unter höchstem Stress. Uljana will unbedingt helfen – doch sie hat auch Zweifel. "Gerade weiß ich nicht, ob ich bereit bin, an die Front zu gehen. Ich bin bereit, als Sanitäterin zu helfen. Ich bin bereit, in Krankenhäuser zu gehen und dort zu arbeiten – aber ich weiß nicht, ob es das Risiko wert ist, denn ich habe zwei Kinder. Wenn ich wüsste, dass man meinen Kindern helfen würde, wenn mir, Gott bewahre, etwas zustoßen sollte", sagt sie.
Uljana fordert mehr Klarheit von der Regierung
Die Vorstellung, dass Tochter Alina und Sohn Artem ohne Eltern aufwachsen könnten, macht ihr Angst. Mehrfach am Tag spricht sie mit ihren Kindern in Irland. Besonders die Fragen von Artem zerreißen sie innerlich: "Er sagte zu mir: Mama, du wirst mich nicht verlassen, oder? Du lässt dich nicht einberufen? Ich bitte dich so sehr, nicht zu gehen. Ich habe große Angst dich zu verlieren."
Eine emotionale Belastung für Uljana. Wenn sie sich einberufen lässt, dann verpflichtet sie sich auf unbestimmte Zeit dem Militär. Eine Einberufung für drei oder sechs Monate, ja sogar für ein Jahr, würde ihr die Entscheidung leichter machen, sagt sie. Und auch vielen wehrfähigen Männern. Uljana hat Fragen an die Regierung: "Warum kämpfen unsere Soldaten und haben keinen befristeten Armee-Dienst? Damit sie wissen, wie viel Zeit sie an der Front verbringen und wie viel Zuhause. Und überhaupt den Umfang der Einberufung für einen solchen Zeitraum. Sie sollten Ruhe bekommen, ihre Zeiträume kennen. Das macht es für den Menschen einfacher."
Nach vielen Monaten an der Front und mehreren Verletzungen, sollte Ruslan versetzt werden, um weit weg von der Front neu rekrutierte Soldatinnen und Soldaten auszubilden. Doch er entschied sich dazu, nochmal in den Kampf zu gehen. Nach Awdijiwka. Ruslan Lastivka kam nicht mehr zurück.
Autor: Vassili Golod / ARD Kiew
Stand: 18.02.2024 20:45 Uhr
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