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Ukraine: Immer weiter – die Arbeiterstadt Krywyj Rih

Ukraine: Immer weiter – die Arbeiterstadt Krywyj Rih  | Bild: WDR

Hier bringen sie Metall zum Schmelzen. Dieser Hochofen in der Stadt Krywyj Rih ist etwa 60 Kilometer von der Front entfernt. Immer wieder heulen die Sirenen. Bedeutet: Jederzeit könnten russische Raketen und Drohnen hier einschlagen. Die Arbeit geht trotzdem weiter. "Die Produktion läuft in einem engen Zeitplan, wir können hier nicht weggehen und alles liegen lassen – auch nicht während eines Luftalarms. Wir fahren einige Prozesse runter, wenn es eine besonders große Gefahr gibt. Aber sonst arbeiten wir einfach weiter, das ist unser Job", erzählt Metallarbeiter Mykola Bojkow.

Mykola Bojkow kennt den Anblick von flüssigem Metall seit seiner Kindheit. Heute ist er Schichtleiter am Hochofen. Überprüft, dass der strenge Zeitplan bei der Stahlproduktion eingehalten wird: "Meine Eltern haben hier gearbeitet und auch mein Bruder. Also irgendwie arbeiten wir alle hier im Stahlwerk und ich bin auch hierher gekommen." Sie alle sind stolz auf ihre Arbeit. Stolz auf ihre Stadt. Trotz des Krieges. "Die Menschen machen diesen Ort so besonders, weil es eine große Industriestadt ist. Alle hier sind wie Ameisen in einem Ameisenhaufen. Sie gehen zur Arbeit, sie haben ihr eigenes Leben, Hektik und Trubel. Natürlich gibt es auch Zeit für Erholung. Aber vor allem arbeiten wir", sagt der Metallarbeiter.

Schulalltag nahe der Front

Ukraine: Unterricht im Luftschutzbunker – Alltag in der Ukraine.
Ukraine: Unterricht im Luftschutzbunker – Alltag in der Ukraine. | Bild: WDR

Krywyj Rih gilt als eisernes Herz der Ukraine. Der Krywbass, das Becken rund um die große Arbeiterstadt, ist reich an Bodenschätzen. Auch mitten im Krieg bauen sie hier Eisenerz ab – und machen weiter. Wer in die Stadt reinfährt, stellt fest: Hier geht es wirklich immer weiter. Krywyj Rih ist eine der längsten Städte Europas. Es ist eine Stadt, in der die Folgen des Krieges an verschiedenen Orten sehr konkret werden. "An der Wand sehen Sie sieben Gedenktafeln. Fünf dieser Jungs habe ich persönlich in Geschichte unterrichtet", erzählt Schulleiter Serhij Borodavka.

Diese ehemaligen Schüler wurden bei der Verteidigung ihres Landes an der Front getötet. Schulleiter Serhij Borodavka will, dass sie nicht vergessen werden. Niemand dürfe sich an den Krieg gewöhnen: "Mein Herz schmerzt ständig, meine Seele schmerzt. Ich denke, dass es falsch ist. Der größte Teil der Welt lebt ein anderes Leben. Und unser Volk muss in den vergangenen 80 Jahren den zweiten schrecklichen Krieg in Folge durchleben. Das ist historisch ungerecht."

Er will nicht noch mehr Gedenktafeln am Schulgebäude anbringen müssen. Und er will, dass die Kinder wieder ohne Angst vor Raketen und Drohnen lernen können. Auch deshalb geht der Unterricht weiter. Mit zugeschalteten Schülern, die aus Angst vor Angriffen Zuhause bleiben. Und mit zugeklebten Fenstern, um Splitterverletzungen durch Druckwellen zu vermeiden. Nicht weit von hier ist Wolodymyr Selenskyj aufgewachsen. Er ging auf die Nachbarschule Nr. 95. Heute ist er Präsident. Auch Veronika kann sich vorstellen, Präsidentin zu werden: "Ich würde den Krieg beenden. Und alles würde funktionieren. Wir würden alles neu bauen. Überall dort, wo es Explosionen gab. Schulen wären offen. Ganz ohne Sirenen. Kindergärten würden arbeiten. Kinder würden lernen."

Direkt nach der Pause klingelt es wieder – das Zeichen für den Luftalarm. Alle Schulklassen müssen jetzt in den Keller. Was routiniert wirkt, ist eine enorme psychische Belastung für Schüler und Lehrer. Im Keller sitzen alle Klassen in einem Raum. Es ist laut und etwas stickig. Aber der Unterricht geht weiter. "Es gibt zumindest die Möglichkeit, die Kinder vollwertig zu unterrichten, deren Eltern zugestimmt haben, sie zur Schule zu schicken. Denn mit Online-Unterricht lässt sich das natürlich nicht vergleichen", erklärt Lehrerin Kateryna. Schüler David sagt: "Ich möchte, dass der Krieg im Sommer vorbei ist. Wir haben uns früher gut mit den Russen verstanden, dann haben sie alle angegriffen und jetzt möchten sie auch Krywyj Rih einnehmen und den Präsidenten töten." Er schaut fast keine Nachrichten mehr, sagt David. Sie machen ihn traurig. 

Auch wichtige Fachkräfte werden eingezogen

Im Schutzkeller oder im Stahlwerk – dem Kriegsalltag entkommt in Krywyj Rih niemand. "Wir haben derzeit etwa 20.000 Mitarbeiter, von denen etwa dreitausend mobilisiert sind. Das sind mehr als 15 Prozent", erzählt Stellvertretender Generaldirektor Serhij Plitschko. Das Dilemma der Ukraine wird in den Produktionshallen von "ArcelorMittal" klar: Der Staat braucht Männer, um sich zu schützen – und die Industrie braucht Männer, um Stahl zu produzieren und wirtschaftlich zu bleiben. "Es dauert sehr lange, diese Arbeiter auszubilden. Das kann man nicht in ein paar Wochen oder ein paar Monaten tun. Und gleichzeitig geht die Mobilisierung weiter."

Rüstung produzieren sie nicht. Aus ihrem Stahl werden aber Befestigungsanlagen und Schutzkeller gebaut. Und ihre Steuergelder sind wichtig für den maroden Staatshaushalt. Wie die Regierung dieses Problem lösen will? Ungewiss. Auch Mykola Bojkow ist im wehrfähigen Alter und könnte jederzeit einberufen werden: "Wir haben jetzt zu wenig Leute, also bin ich meistens hier in der Gießerei. Man muss nun Jungs helfen, weil es einen echten Mangel gibt. Und wenn ich eingezogen werde? Dann ist es halt so. Dann wird das notwendig sein. Wir werden das Land verteidigen. Im Moment arbeiten wir weiter, solange wir können."

Weil es in Krywyj Rih immer weiter geht. Und so rollt auch mitten im Krieg der Ball. Beim Heimspiel des FC Kryvbas Krywyj Rih. Die Ukrainerinnen und Ukrainer wollen sich ihren Alltag nicht nehmen lassen. Trotz des Krieges.

Autor: Vassili Golod / ARD Kiew

Stand: 26.05.2024 19:59 Uhr

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