So., 26.02.23 | 18:30 Uhr
Das Erste
Ukraine: Die Rakete im Wohnzimmerboden
Unterwegs mit Sprengstoffexperten in den Dörfern bei Charkiw. Hier war vor einem Jahr noch Kampfgebiet: Zerstörung und Verwüstung überall. Es sind weniger als 30 Kilometer bis zur russischen Grenze. Nadezhda Eduardovna hat sie um Hilfe gerufen. Bei ihr stecken Reste einer Rakete mitten in der Wohnung: "Als wir, nachdem die Russen zurückgedrängt waren, wieder hierherkommen konnten, sah ich, was sie uns Nettes hinterlassen hatten. Ich hatte Angst es anzufassen. Die Jungs müssen es jetzt rausholen, aber was war ich erschrocken. Ich dachte, das explodiert gleich."
Die Munitionsspezialisten geben schnell Entwarnung. Nicht mehr explosiv, kein Sprengstoff mehr in der Raketenspitze. Die Gefahr begleitet das Team aber jeden Tag. Sprengstoffexperte Vladyslav Shapoval: "Ich wollte hier unbedingt arbeiten und das mache ich auch. Meine Familie akzeptiert das, obwohl sie sich schon Sorgen machen."
Angst vor Russland
Bei vielen Bewohnern bleibt die Angst, dass die russischen Soldaten zurückkommen könnten. Nadezhda Eduardovna will sich aber durch die schrecklichen Erinnerungen an das letzte Jahr nicht vertreiben lassen: "Das ist alles noch sehr präsent für mich. Ich mache mir Sorgen. Aber so ist das Leben eben, Wir müssen uns beruhigen, weiterleben und überleben. Weggehen würde ich nicht: Meine Mutter, mein Vater, mein Mann liegen hier begraben - es ist unser Land."
Die Sprengstoffräumer schauen bei diesem Haus nur kurz in den Garten. Nur Metallraketenschrott, keine Explosionsgefahr, sagen sie. Das ist aber nicht immer so. Sprengstoffexperte Vyacheslav Motschalow zeigt uns, was nach den Raketeneinschlägen von seinem Elternhaus übriggeblieben ist. Staatliche Unterstützung zum Wiederaufbau gibt es nicht, schon gar nicht mitten im Krieg: "Ich bin schon besorgt, wie das hier weitergehen soll, wie wir das bezahlen sollen. Ich habe zurzeit keine Arbeit. Ich kann es einfach nicht sagen."
Ein Dorf weiter hat vor einem Jahr eine Bombe mehrere Häuser komplett zerstört. Svitlana hielt sich damals keine hundert Meter entfernt davon auf: "Die Frau in dem einen Haus wurde verletzt, ihr Mann kam mit dem Schrecken davon. Nebenan starb die Nachbarin, weil sie von einer einstürzenden Hauswand begraben wurde."
Überleben in Charkiw
In der Stadt suchen die Menschen bei den täglichen Luftalarmen Schutz in den Charkiwer U-Bahnhöfen. Und einige leben aus Angst vor den Raketen dauerhaft hier, manche seit einem Jahr.
Tausende Teile von Raketen und Granaten an einem geheimen Ort in Charkiw: Es gibt mehrere Plätze, auf denen die Armee sammelt, was Russland seit Monaten auf die Stadt niedergehen lässt. Dmytro Chubenko von der Staatsanwaltschaft zeigt uns die Beweismittel aus einem unmenschlichen Krieg. Auch international geächtete Waffen sind dabei: "Wir finden in Charkiw immer wieder solche Streubomben, die nicht explodiert sind. Sie fallen oft auf weichen Boden und explodieren dann nicht. Jede Woche entdecken wir ein, zwei solcher Streubomben in der Stadt."
Zurück in den Dörfern bei Charkiw. Die Männer des Katastrophenschutzes finden überall noch explosives Material, wie diese Granate. Die sei nicht mehr gefährlich, beruhigen sie die Anwohner. Dennoch müssen die Spezialisten bei jedem Fund extrem vorsichtig sein. Die Sprengstoffexperten sammeln aber noch weitere Geschosse ein. Und hoffen, dass es ruhig bleibt an der nahen Frontlinie.
Autor: Oliver Feldforth, ARD Kiew
Stand: 26.02.2023 18:59 Uhr
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