So., 25.04.21 | 19:20 Uhr
Das Erste
Ukraine: Tschernobyl – strahlendes Erbe
Die Spuren, sie sind noch sichtbar. Vor einem Jahr brannten hier die Wälder, in der Sperrzone, rund um die Atomruine. Dort im Boden, sind die Bäume immer noch radioaktiv verseucht. Durch Waldbrände werden radioaktive Partikel aufgewirbelt – die Strahlung gefährdet die Menschen in der Umgebung.
Ein Brand, der Vielen Angst machte
Im letzten Jahr waren sie die ersten vor Ort. Die Feuerwehrleute. Der Job ist hart genug, und dann noch das Risiko durch die Strahlung. Viele seiner Kolleg*innen hätten Gesundheitsschäden, erzählt Mykola Naumenko: "Ob es dort sauber oder verstrahlt ist, das hält uns nicht ab. Denn Arbeit ist Arbeit. Ich bin mehrmals in solche verstrahlte 'Flecken' geraten, ab 1.000 Mikroröntgen brennen einem die Lippen, sie werden wie Blei, sehr trocken. Und dann, dann versagt die Stimme, nach zwei Stunden." Mikroröntgen ist eine Maßeinheit für die Strahlenbelastung. Mykola Naumenkos Messwert übersteigt den in Deutschland gültigen Grenzwert um ein Vielfaches.
Einige Kilometer weiter, in Mahdyn, einem kleinen Dorf, knapp außerhalb der Sperrzone, sitzt der Schock noch tief. Die Bewohner*innen erinnern sich nur allzu gut an den Moment, als der Wind den Rauch und das Feuer in Richtung ihrer Häuser trieb. "Da war dieses Geräusch, lauter als ein Zug. Erst kam schwarzer Rauch, dann die roten Flammen. Wir sind weggelaufen", erzählt ein Bewohner.
Im Gemeindezentrum haben sie sich versammelt. Beraten über den Wiederaufbau. Wie es überhaupt weitergehen soll. Und sie reden über ihre Angst vor der unsichtbaren Gefahr, der Strahlung. "Die Strahlung ist um das Mehrfache gestiegen, denn die ganze Radioaktivität war im Boden. Wie hoch kann ich offiziell nicht sagen, aber wir wissen aus der Erfahrung, dass die Feuerwehrleute, die in verstrahlten Gebieten arbeiten, in der Regel krank werden", sagt Bürgermeister, Mykola Bukhovets.
Die Strahlung hat Auswirkungen auf die Natur
35 Jahre ist sie her, die Reaktorkatastrophe von Tschernobyl. Eine Schutzhülle haben sie um die Atomruine gebaut. Erste Aufräumarbeiten im Inneren sollen bald beginnen. Jahrzehnte wird es dauern, bis diese Arbeiten abgeschlossen sind. Und so lange, und vielleicht für immer, wird die Stadt Prypjat, nahe der Ruine, eine Geisterstadt bleiben.
Wir fahren in die Sperrzone, die sich über 4.300 Quadratkilometer erstreckt. Wer hierher will, braucht eine Sondergenehmigung. Tagtäglich nehmen Wissenschaftler*innen hier Proben. Von Baumrinden, dem Boden. Abgefallene Blätter und Baumnadeln verrotten hier nur schlecht, haben Wissenschaftler 2014 herausgefunden. Die Strahlung hat die Mikroorganismen im Boden stark geschädigt.
Im Labor werden die Proben untersucht. Man will herausfinden wie groß die Gefahr noch heute ist – wenn etwa bei Waldbränden strahlende Partikel aufgewirbelt werden. "Beim Boden, der Luft und dem Wasser, da haben wir unterschiedliche Strahlenwerte", sagt Leonid Bohdan, Leiter der Abteilung Spektralanalysen. "Im Moment der Katastrophe, im Mai, Juni 1986, wurde viel freigesetzt, die Luft war kontaminiert. Überall. Aber jetzt ist es mehr der Boden. Wie sehen hier Thorium, Uran und Plutonium. Bei den Bränden steigt die Radioaktivität natürlich stark an."
Auch heute droht noch Gefahr
An vielen Stellen ist der Boden belastet. Als wir die Sperrzone wieder verlassen, stellt sich heraus, dass auch unser Teamfahrzeug verstrahlt ist, gereinigt werden muss. Drehen dürfen wir das nicht. Mit der Strahlung leben die Menschen hier seit all den Jahren. In den Dörfern am Rande der Sperrzone, wie etwa in Krasyatychi, ein Stück weiter in Richtung der Hauptstadt Kiew.
Ivan Marchenko ist hier geboren, war ein Kind als die Strahlenwolke kam, damals, 1986. Wachstumsstörungen waren die Folge. Heute hat er eine kleine Bäckerei. Die Angst, so sagt er, sei immer da – dass etwas passieren könnte, etwa bei den geplanten Aufräumarbeiten in der Atomruine: "Europa ist nicht allzu weit. Sollte etwas passieren, dann wird nach zwei, drei Tagen alles in Deutschland sein. Überall – wohin der Wind weht. Es ist sehr schrecklich."
Tschernobyl vor 35 Jahren. Geschichte. Doch für die Menschen hier ist es die Gegenwart. Tag für Tag.
Autor: Jo Angerer / ARD Studio Moskau
Stand: 25.04.2021 20:24 Uhr
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