So., 21.04.24 | 18:30 Uhr
Das Erste
Ukraine: Uschhorod – Törtchen und Tod
Die Karpaten – im Westen der Ukraine. Hinter diesen Bergen liegt die Slowakei. Viele Ukrainer, die nicht zur Armee wollen, versuchen hier über den Fluss Usch die grüne Grenze zu überqueren – zu Fuß durch die Wälder. Doch viele Menschen kommen auch hierher, um zu bleiben. Ushgorod – mit knapp 120.000 Einwohner:innen gilt als eine der sichersten Städte der Ukraine. Konditor Valentin Schtefanyo ist in Uschhorod aufgewachsen. Seine Familie lebt hier seit Generationen im Dreiländereck – Ungarn, Slowakei, Ukraine. "Ich habe in Frankreich studiert und beschlossen, französisches Gebäck hierher zu bringen. Anfangs hatten wir Sorge, ob die Menschen das annehmen. Aber jetzt haben wir in der Stadt schon ungefähr vier, fünf Konditoreien, europäische", erzählt der Konditor.
Zusammen mit seinen Angestellten bereitet er gerade eine Lieferung feinster Uschgorod Kuchen für die Armee vor. Bei der oft schlechten Verpflegung wollen sie die Soldaten mit ihrem Edelgebäck ablenken. "Wir machen das, damit die Soldaten wissen, dass sie da draussen in den Schützengräben nicht alleine sind. So wollen wir sie aufmuntern. Das ist nicht weniger wichtig als die reine Versorgung mit Lebensmitteln. Gut für den Kampfgeist", sagt Valentin Schtefanyo. Alle paar Wochen schickt Konditor Schtefanyo einen Lieferwagen quer durch die Ukraine an einen der Frontabschnitte. Dort verteilen seine Leute die Kuchen an Soldaten. Zu Beginn des Krieges versorgten sie in Uschgorod Binnenflüchtlinge mit Kuchen und Pizzen. In die Stadt kamen mehr als 100.000 Menschen, die versorgt werden mussten. Schtefanyo und seine Belegschaft halfen auch bei der Unterbringung: "Ich erinnere mich noch genau an diesen Horror, wie unsere damaligen Gäste – Flüchtlinge aus der ganzen Ukraine – in Schulen, Kindergärten und Turnhallen auf Paletten schliefen. Ich habe es mit eigenen Augen gesehen. Es war schrecklich. Ich wäre nicht gerne an ihrer Stelle gewesen, also versuche ich in meinen Gedanken und in meinem Herzen bei den Menschen zu sein, die an der Front für unseren Schutz sorgen."
Auch Fachkräfte siedeln um
Rund um Uschgorod sind am Ende mehr als 70.000 Menschen geblieben. Sie haben sich mit ihren Familien im Windschatten der Karpaten niedergelassen. Und der Zustrom ist noch lange nicht zu Ende. Die Bombardierung der Universitätsstadt Charkiv im Osten der Ukraine treibt auch viele Computer-Spezialist:innen in den sicheren Westen der Ukraine. Die 29-jährige Myryslava Maidych ist Sprecherin des sogenannten IT-Clusters. Sie unterstützt Neuankömmlinge bei der Büro- und Wohnungssuche: "Da Kharkiv unter Dauerbeschuss steht, holen immer mehr Firmen ihre kompletten Teams aus der Stadt raus und siedeln sie in die Karpaten um." Myryslava geht davon aus, dass 35.000 IT-Fachkräfte und ihre Familie schon in Uschgorod sind. Sie will sich dafür einsetzen, dass sie am Leben in der Stadt teilhaben. "Uschgorod und die Region Transkarpatien werden immer mehr zu einem Zufluchtsort für Firmen, die vor den Bomben der Russen fliehen. Wir sollten aber nicht darauf warten, erst nach Ende des Krieges alles wieder aufzubauen. Wir bauen jedenfalls in der Region jetzt schon war Neues auf", erzählt sie.
Und das ist auch sichtbar im Stadtbild. Überall wird gebaut. Neue Wohnhäuser und Büros entstehen in Rekordzeit. Source Angle, eine dänische IT- Firma aus Charkiv – auf Osteuropa spezialisiert – hat sich mit seinen gesamten Mitarbeitern in Uschgorod niedergelassen. Lagebesprechnung. Noch wird alles improvisiert. Die Stimmung ist gut. Die Kisten sind gerade angekommen. "Wir haben noch mehr Kisten im Lager. 16 Quadratmeter komplett vollgestopft. Da sind Monitore, Laptops und alles mögliche – alles aus Charkiv. Und was ist das denn ? Sind sind das eure Yogamatten?", sagt Vladyslav Neprykovskiy von Source Angels. "Die Mieten sind ganz schön gestiegen. Und da haben wir diese Matten, falls Mitarbeiter erst einmal auf dem Boden schlafen wollen."
Und obwohl sie nun alle weit weg in Uschgorod leben, versuchen sie den Menschen in Charkiv zu helfen. Mit einem Serviceportal organisieren sie Lebensmittellieferungen dahin, wo sie am meisten benötigt werden. Auf der Plattform koordinieren sie Hilfsorganisationen und Bedürftige. 50 Prozent ihrer Arbeitskraft dürfen sie darauf verwenden. "Beim Militär geht es nicht nur um Waffen, es geht um Starlink-Satellitenantennen, es geht um Software, um Genehmigungsverfahren. 1.000 verschiedene militärische Aufgaben, die nichts mit dem Schießen zu tun haben", erzählt Vladyslav Neprykovskiy.
In der deutsche Außenhandelskammer in Kiew berät man deutsche Unternehmen, die sich für die Ukraine interessieren. Geschäftsführer Perau sieht in Uschgorod das Potential für ein europäisches Silicon Valley. Ukrainische Computer Experten seien innovativ, gut ausgebildet. "Also Deutschland und Europa insgesamt sind ja sehr abhängig von IT-Dienstleistungen aus dem Ausland. Die Ukrainer sind gut darin. Das ist ein Bereich mit einer extrem hohen Wertschöpfung auch. Und Deutschland wird in zunehmendem Maße auch angewiesen sein und mit der Ukraine zusammenarbeiten", sagt Reiner Perau von der Außenhandelskammer.
Die Ukraine und auch der Westen müssen einen langen Atem haben, meint Konditor Valentin Schtefanyo. Er hofft auf größere Unterstützung. Die Lage an der Front macht ihm große Sorgen: "Wenn die Welt die Ukraine nicht weiter unterstützt, wird die Welt eine der friedliebensten, demokratischsten Nationen verlieren, eine, die für Demokratie und Freiheit kämpft."
Und deshalb wird er weiterhin Kuchen für die Soldaten an der Front backen. Die nächste Lieferung ist für den fünften Mai geplant – zum orthodoxen Ostern.
Autorin: Birgit Virnich / ARD Kiew
Stand: 21.04.2024 18:53 Uhr
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