So., 31.03.19 | 19:20 Uhr
Das Erste
Ukraine: Ein zerrissenes Land wählt
Im Osten des Landes wird noch immer scharf geschossen. Fast täglich sterben Menschen im Konflikt. Der Westen der Ukraine macht dagegen andere Erfahrungen. Trotz der allgegenwärtigen Korruption hat das Land einen Modernisierungsprozess durchgemacht, hier sind die Menschen eher optimistisch, wenn man sie nach den Zukunftsaussichten befragt. Denn hier wollen sie eine Annäherung an die EU und vor allem an Polen, wo schon jetzt viele Ukrainer aus der Grenzregion arbeiten. Eine Reportage von Brigit Virnich, ARD-Studio Moskau.
Ostriv – im Westen der Ukraine. "Meine Ukraine, Du bist in meinem Herzen", singen sie, und über die Schönheit der Karpaten. Vera ist gerade erst aus Italien zurückgekehrt, wo sie Alzheimer-Patienten pflegt. Wie viele Ukrainer arbeitet auch sie im Ausland. In den meisten Familien arbeitet mindestens einer im Ausland. Ganze Ortschaften sind mittlerweile wie ausgestorben. Früher hatte Vera mit ihrer Freundin Nadezhda einen kleinen Laden, doch dann sanken die Einnahmen. Zu wenig Kunden. "Die Menschen müssen im Ausland arbeiten, denn hier gibt es keine Jobs, weder für Männer noch für Frauen", sagt Nadezhda. "Und wenn, dann ist die Bezahlung schlecht. Richtig schlecht."
Die Korruption wuchert
Sie selbst hat früher in Moskau gearbeitet, doch das sei jetzt nicht mehr so einfach, aufgrund der Spannungen zwischen den beiden Ländern, außerdem verdiene man da viel weniger. "Unsere Kinder haben studiert, um dann Bauarbeiter zu werden. Sie studieren sechs Jahre lang auf Universitäten, um dann auf dem Bau zu arbeiten?" Viele Ukrainer gehen zur Arbeit nach Polen. Dort verdienen sie das Dreifache. Die Annäherung an den Westen rechnen sie Poroschenko zwar hoch an, aber er hätte mehr für die Wirtschaft tun müssen. "Ich bin überzeugt, wenn wir einen guten Präsidenten hätten, würden die Fabriken wieder geöffnet", sagt Vera. "Das wichtigste ist, das unser neuer Präsident ans Volk denkt, damit wir Ukrainer nicht mehr ins Ausland gehen müssen, um zu arbeiten."
Nach wie vor hätten die Oligarchen viel zu viel Einfluss in der ukrainischen Politik, klagen sie. Die Korruption wuchere weiterhin. Und so schauen sie sich ihren Traum von einer besseren Zukunft im Fernsehen an. Dort spielt Schauspieler Selenski einen Geschichtslehrer, der ukrainischer Präsident wird und sich mit der Elite des Landes anlegt. "Der Präsident sollte das Volk respektieren", meint Vera. "Er sollte dafür sorgen, dass es unseren Kindern und Enkeln gut geht." Mittlerweile ist Selenski der wohl aussichtsreichste Präsidentschaftskandidat. Vor allem junge Ukrainer trauen dem Schauspieler zu, den Kampf gegen die Korruption auch im wahren Leben erfolgreich zu führen.
Ein neuer eiserner Vorhang
Ganz anders die Situation im Osten. Die Fördertürme aus den 50er Jahren – einst Wahrzeichen der mächtigen Industrieregion Donbass. Heute herrscht Krieg. Die Bergarbeitersiedlungen: verwaist, grau, erstarrt. Früher war hier die offene Grenze zu Russland. Auf der Straße der internationalen Freundschaft hat man Straßenfeste zusammen gefeiert – Russen und Ukrainer. Jetzt ist dort so etwas wie ein eiserner Vorhang entstanden. Mühsam schieben sich die Menschen an Kontrollposten vorbei. Manchmal dauert es Stunden.
Die 58-jährige Marktfrau Alexandra hat früher auf dem Markt direkt an der Grenze gut verdient. Jetzt kann sie kaum noch davon leben. "Wir werden nie wieder so einfach über die Gleise gehen können. Es war ein Ganzes und dann hat man es in zwei Hälften geteilt. Man hat mitten auf dem Asphalt Pfähle gebaut. Früher sind hier Russen und Ukrainer gefahren."
Früher hat ihr Mann in Russland gearbeitet, doch das ist jetzt viel zu kompliziert geworden, wie auch der Einkauf von Waren. Sie ist überzeugt, wie viele, dass Poroschenko nicht wiedergewählt wird. Sie hatten gehofft, dass er als Unternehmer Arbeitsplätze schaffen würde. Doch im Gegenteil – die Wirtschaft ist geschwächt.
Wunsch nach Frieden und Arbeit
Die 54-jährige Lilia ist Akkordeonspielerin und auf dem Weg zur Chorprobe. Das Haus ihres Nachbarn ist gerade von einem Querschläger zerstört worden. Die Menschen sind kriegsmüde. "Die Hauptsache ist natürlich der Frieden, die Menschen müssen wieder Arbeit haben. Früher gab es hier Werke und Fabriken. Die Menschen müssen wieder vernünftig verdienen, um ein würdiges Leben zu führen. Und damit die Kinder wieder lernen können, ohne Angst zu haben."
Die Menschen ächzen unter den Folgen des Krieges. Wie viele Ukrainer sehnt sie sich ein Ende des Krieges herbei, der ihnen, aus ihrer Sicht, von Russland aufgezwungen wurde. Und so singt sie mit den alten Damen aus dem Dorf ukrainische Volkslieder, wie dieses über die schönen Seen. "Macht lieber Babys, als Krieg", heißt es im Text – "Make love not war" auf Ukrainisch. Gemeinsam wollen sie so die ständige Angst überwinden. Natürlich müsse die Ukraine, Russland die Stirn bieten, aber so langsam verlieren sie die Kraft. Nur eine neue Politikergarde werde die Dinge grundlegend ändern, aber die müsse wohl erst heranwachsen. Immerhin hätten sie in der Ukraine Kandidaten und anders als in Russland stehe nicht schon vor den Wahlen fest, wer gewinne.
Stand: 01.04.2019 11:41 Uhr
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