So., 11.08.24 | 18:30 Uhr
Das Erste
Ukraine: Wie gespalten ist die Gesellschaft?
In den Karpaten ist die wachsende Spannung innerhalb der ukrainischen Gesellschaft spürbar. Verzweifelte Männer versuchen zu flüchten, um der Einberufung in die Armee zu entkommen. Grenzschützer stehen bereit, um sie daran zu hindern. Haben sie Verständnis oder empfinden sie Wut? Wozu die Spannung führen kann, wurde im Örtchen Worochta, das vom Tourismus lebt, sichtbar. Weil das ukrainische Militär am Ortseingang stand, um Männer einzuberufen, fürchteten die Einheimischen einen Einbruch ihres Geschäfts, wenn Arbeitskräfte eingezogen werden. Es kam zu Handgreiflichkeiten, die landesweit für Aufsehen sorgten. Auf dem Soldatenfriedhof in Lwiw sind es inzwischen hunderte Gräber, fast jeden Tag kommen neue dazu. Fast 900 Tage nach Beginn des russischen Angriffskriegs ist die Zermürbung der Gesellschaft auch im vermeintlich sicheren Westen des Landes nicht zu übersehen.
Vermeintliche Idylle im Westen des Landes
Die Karpaten im Südwesten der Ukraine. Russische Raketen und Drohnen fliegen hier selten. Doch ausgerechnet in dieser Idylle, lässt sich die wachsende Spannung greifen. Verzweifelt versuchen einige Ukrainer über die Berge zu flüchten. Andere kommen in die Berge, um abzuschalten. "Ausschlafen kann man in Charkiw nicht, ständig gibt es Explosionen", sagt Pavlo. Olha meint: "Hier ist es ruhiger. Saubere Luft, leise. Hier gibt es Leben."
Hunderte Kilometer von der Front entfernt scheint das Leben in dem Örtchen Worochta normal. Zumindest an der Oberfläche. Denn die Last des Krieges holt sie auch in dem Ferienort immer weiter ein. "Wir haben vom Tourismus gelebt. Jetzt gibt es keine Touristen", klagt Taxifahrer Vasyl. "Wovon sollen wir leben?"
Eine Frage, gerichtet an die Führung der Ukraine. Denn es ist das verschärfte Gesetz zur Einberufung in die Armee, das sie für ihre Nöte verantwortlich machen. Im Juli stellt das Militär am Ortseingang von Worochta einen Kontrollpunkt auf. Abschreckend für Touristen im wehrfähigen Alter. Einheimische fürchten einen Einbruch ihres Geschäfts. Es wird laut, einige Männer werden handgreiflich. Worochta macht landesweit Schlagzeilen. Der Bürgermeister schämt sich für diese Bilder. Damit die Unruhen nicht weiter eskalieren, fordert er mehr Dialog – von Politik, Militär und Gesellschaft. "Der Krieg belastet die Menschen psychisch sehr stark. Wenn ein Mensch eine schwache Psyche hat, kann die Situation sofort zu einer Form der Aggression führen. Die wirtschaftliche Situation im Staat ist schwierig. Die Menschen sind ärmer geworden – und das hat Folgen."
Viele Handwerker sind an der Front
Auch für sie: Jurij und Svitlana Hrynkiw betreiben einen Gasthof in Worochta. Mit Schwimmteich, Sauna und viel Wald. Bis zu 70 Menschen können hier unterkommen. Doch im Vergleich zum Vorjahr kommen sie nur noch auf die Hälfte der Buchungen. Und für Reparaturarbeiten gehen dem Ort die Männer aus. "Viele Handwerksmeister sind an der Front", sagt Jurij Hrynkiw. "Überhaupt sind sehr viele Menschen von hier an der Front. Junge Leute haben sich freiwillig gemeldet. Was soll ich sagen... Deshalb müssen wir die ganze Arbeit selbst machen." Weil das Geld fehlt, ziehen sich die Arbeiten hin. Dazu kommen Blackouts wegen zerstörter Kraftwerke. Mit all dem kommen sie irgendwie zurecht.
Aber Jurij hat Familienmitglieder an der Front. Einige seiner engsten Freunde wurden im Krieg getötet. Er wirft dem Westen unterlassene Hilfeleistung vor und empfindet Schmerz. "Jede Familie teilt dieses Gefühl. Das betrifft nur diejenigen nicht, die weit weg sind. Die Urlaub machen, wie die Abgeordneten in den Parlamenten, in den USA, obwohl diese Staaten uns einst die Sicherheit garantiert haben." Allein aus dem kleinen Worochta sind mehr als 200 Männer und Frauen in den Krieg gezogen – 13 von ihnen sind tot. Aus Angst vor diesem Schicksal entscheiden sich tausende Männer für die Flucht. Sie verstecken sich in dichten Wäldern, überqueren eiskalte Flüsse. In manchen Fällen enden die Fluchtversuche tödlich.
Vergeblicher Fluchtversuch nach Rumänien
Fahrt an einen Ort irgendwo an der Grenze zwischen der Ukraine und Rumänien. Diese Männer sind dafür verantwortlich, dass niemand illegal das Land verlässt. Haben sie Verständnis für Ukrainer, die aus Angst flüchten? "Angst haben alle", meint Vasyl Maksymjuk. "Aber aus irgendeinem Grund können einige ihre Pflicht erfüllen, indem sie die Angst überwinden, und andere wollen ihrer Pflicht irgendwie entkommen. Warum sollten einige das Land schützen, während andere sich dem entziehen?" Ein Dilemma: Der Staat braucht Männer, um sich zu schützen. Und er muss verhindern, dass die wachsende Spannung zu einer Spaltung der Gesellschaft führt. Grenzschützer Maksymjuk stellt auch die willkürliche Einberufungspraxis infrage. "Wenn ein Mensch wirklich Angst hat, warum wird er dann an die Front geschickt? Lass ihn hinten, lass ihn dort die Versorgung erledigen."
Weil das nicht passiert, haben die Grenzschützer so viel zu tun, wie noch nie. Ihr Abschnitt, sagen sie uns, ist aktuell der dynamischste. Jeden Moment kann etwas passieren. Maksymjuk und seine Kollegen gehen mit einem trainierten Schäferhund Kilometer für Kilometer ab, überprüfen Spuren. Neue Zäune, Überwachungsdrohnen, zusätzliches Personal und Wärmebildgeräte – die Ukraine sieht sich gezwungen, mehr Geld in den Schutz ihrer hunderte Kilometer langen Südwestgrenze zu stecken. Wer es bis hierher schafft, den trennen nur noch wenige Meter von Rumänien. Plötzlich geht es schnell. Ein Mann durchtrennt den Stacheldrahtzaun und läuft los. Nur wenige Meter vor Rumänien halten ihn die Grenzsoldaten auf. Der Mann ist ruhig. Wehrt sich nicht. Er weiß, dass ihm für den Versuch des Grenzübertritts nur eine Geldstrafe droht. Unsere Frage zu seinem Fluchtversuch beantwortet er nicht. Die Grenzschützer haben ihre Pflicht erfüllt. "Ich bin da gleichgültig. Da ist weder Wut noch Freude."
Das Kriegsrecht schränkt Grundrechte ein, die zu Friedenszeiten unantastbar sind. Wie lange kann eine demokratische Gesellschaft das aushalten? Die malerischen Dörfer leeren sich, das Leid wächst und damit auch das Verständnis für diejenigen, die sich dem Kriegsdienst entziehen. "Aus unserem Dorf haben sich alle freiwillig gemeldet", erzählt Dorfbewohnerin Ljubow Popowytsch. "Niemand ist in die Armee gegangen, weil er einberufen wurde. Das war zu Beginn des Krieges. Und jetzt retten sich die Leute wie sie können." Bubnysche war mal ein 500-Seelen-Dorf. Dann gingen dutzende Männer an die Front, Familienväter. Vier Männer wurden getötet. Viele verloren Arme und Beine. "Natürlich möchte ich unsere Gebiete nicht Russland geben, aber irgendwie ist alles in eine Sackgasse geraten. Menschen sterben, sterben, sterben – und es gibt kein Ergebnis." Jeden Tag werden in der Ukraine Soldaten beerdigt. Trauerzeremonien, wie hier in Lwiw, sind zur Routine geworden. Die Anteilnahme in der Gesellschaft ist groß. In ihrer Trauer bleiben die Menschen allen Spannungen zum Trotz vereint. Und auch in ihrer Hoffnung auf einen gerechten Frieden.
Autor: Vassili Golod, ARD-Studio Kiew
Stand: 15.08.2024 10:51 Uhr
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