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Libyen: Sehnsucht Europa

Libyen: Sehnsucht Europa | Bild: WDR

Fast 1800 Kilometer lang ist die Mittelmeerküste Libyens, die längste im Norden Afrikas. Ein Flüchtlingsboot ist für die Grenzschützer schwerer zu finden als eine Nadel im Heuhaufen. Beispiel Misrata, drittgrößte Stadt in Libyen. Ein paar Geländewagen mit überdimensionierten Waffen haben die Grenzschützer, doch ihre tägliche Routinestrecke deckt gerade mal fünf Kilometer Küste ab. Kaum jemals fangen sie eine Gruppe vor der Einschiffung ab. Grotesker Restauftrag: das Einsammeln von Wasserleichen, jede Woche ein paar.

Omar al-Kholass, Küstenwache Misrata:

»Manchmal sind die Körper unversehrt, manchmal fehlen auch die Extremitäten, oder die Augen. Vor einigen Monaten haben wir hier eine Kinderleiche gefunden, etwa sechs oder sieben Jahre alt, es war nur noch der Rumpf übrig, schon ziemlich verwest.«

Im Norden Afrikas – keine 300 Kilometer vom Süden Europas entfernt – Szenen wie aus Dantes innerem Kreis der Hölle. Und die libyschen Patrouillen, die die Flüchtlinge aufhalten sollen, bleiben an immer der gleichen Stelle in den Dünen stecken.

Die Sehnsucht Europa zu erreichen, ist größer als die Angst vor der Überfahrt.
Die Sehnsucht Europa zu erreichen, ist größer als die Angst vor der Überfahrt. | Bild: WDR / WDR

Ähnlich sinnlos ist das, was ihre Kollegen auf dem Meer tun: zwei Schiffe für die Sicherung von 600 Kilometer Küste. Auf jedes Boot, das sie zufällig aufbringen, kommen viele Dutzend, die ihnen entwischen. Dann eine Entdeckung, die für das ganze Dilemma der Völkerwanderung in Richtung Europa steht: auf dem Deck liegt plötzlich ein kleiner Umschlag, entweder unter einer Palette hervor- oder aber aus dem Meer an Bord gespült. Der Kapitän reißt die Schutzhülle aus Plastik ab: "Ein Reisepass eines Flüchtlings aus Mali", sagt er. Das Mittelmeer: schon jetzt ein Massengrab.

Misrata - eines von 19 Abschiebegefängnissen in Westlibyen. 780 Flüchtlinge sitzen hier ein, zusammengepfercht, rechtlos, traumatisiert. Kein Arzt schaut nach ihnen, obwohl fast alle krank sind: Schussverletzungen, Hepatitis, Dengue, Aids, ein unbeschreiblicher Gestank. Vor Diktatoren geflohen, vor islamistischem Terror, vor dem Hunger. Zuerst war es eine Flucht, jetzt ist es ein Leidensweg.

In menschunwürdigen Unterkünften, ohne medizinische Betreuung warten Flüchtlinge auf ihre Zukunft.
In menschunwürdigen Unterkünften, ohne medizinische Betreuung warten Flüchtlinge auf ihre Zukunft. | Bild: WDR / WDR

Jerry Joha, Flüchtling:

»Ich habe über 1000 Euro gezahlt von meiner Heimat Nigeria in die libysche Hauptstadt Tripolis, und dann nochmal 900 € für die Schlepper und die Überfahrt – bis wir gefasst wurden.«

Frank Okosta, Freund von Jerry:

»Seitdem wir hier gefangen sind, hatte ich noch keinen Kontakt zu meiner Familie, ich träume nachts von ihr, bis ich weine.«

Richard, Flüchtling:

»Viele haben ihre Familien verlassen, ihre Frauen, ihre Kinder. Wir hatten große Träume von Europa. Wir sind doch nur aus einem Grund geflüchtet: vor den Kriegen und vor den Krisen.«

Bis zu einer Million Menschen warten im Transitland Libyen auf die Reise nach Europa.
Bis zu einer Million Menschen warten im Transitland Libyen auf die Reise nach Europa. | Bild: WDR / WDR

Seku Seidi, Senegal:

»Hier in Libyen, gibt es keine Menschlichkeit.«

Jerry und Frank:

»Sie schlagen uns wie Ziegen. Nein, die Art, wie sie uns auspeitschen, das würde man nicht mal mit einer Ziege machen.«

In der Hauptstadt Tripolis: wohin man schaut Afrikaner, die auf einen Job warten, egal was für einen. Viele haben schon einen oder zwei gescheiterte Versuche hinter sich, ins gelobte Europa überzusetzen, jetzt sparen sie für die nächste Chance. Weil es keinen Weg zurückgibt, versuchen sie es immer wieder, solange bis sie wieder gefasst werden, bis sie es schaffen oder bis sie sterben.

Schon jetzt ist Libyen gespalten in zwei Teile, die Gegner im Westen und Osten bekämpfen sich in einem wieder aufgeflammten Bürgerkrieg. Weil der so viel Geld verschlingt, werden kaum noch Gehälter bezahlt. Doch damit nicht genug: es gibt eine neue, tödliche Gefahr: Am Tag unserer Ankunft in Misrata hat ein Selbstmordattentäter wieder einmal einen Checkpoint in die Luft gejagt, solche blutigen Anschläge des sogenannten Islamischen Staates häufen sich. Gerade mal 170 Kilometer ist die Terrorhochburg Sirt von hier entfernt.

Mohammed Abdel Quddus, Kommandant:

»Zuerst war es eine kleine Gruppe. Dann sind es immer mehr geworden, 500 etwa. Die Terroristen haben gerade mehrere volle Waffenarsenale erobert, damit sind jetzt zusätzlich Dutzende schwerer Maschinengewehre in ihrem Besitz.«

Die Lage ist brandgefährlich, immer mehr Einwohner aus Sirt fliehen mit all ihrem Habe vor den Terroristen, wie diese Familie. Nach unseren Informationen sollen es bereits mehr als 2000 IS-Kämpfer sein. Wenn die Terroristen nun auch noch Misrata bedrohen, dann hätten die überforderten Grenzschützer gar keine Chance mehr.

Die Küstenwache von Misrata hat derweil ihre dritte Patrouille an diesem Tag begonnen. Nachtschicht. Auch jetzt: kein Boot in Sicht, keine verzweifelten Flüchtlinge, die der Patrouille zufällig in die Arme laufen und noch etwas ist wie immer: die Geländewagen bleiben in den Dünen stecken.

Autor: Thomas Aders/ARD Studio Kairo

Stand: 31.05.2015 20:28 Uhr

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