So., 31.05.15 | 19:20 Uhr
Das Erste
Libyen: Sehnsucht Europa
Fast 1800 Kilometer lang ist die Mittelmeerküste Libyens, die längste im Norden Afrikas. Ein Flüchtlingsboot ist für die Grenzschützer schwerer zu finden als eine Nadel im Heuhaufen. Beispiel Misrata, drittgrößte Stadt in Libyen. Ein paar Geländewagen mit überdimensionierten Waffen haben die Grenzschützer, doch ihre tägliche Routinestrecke deckt gerade mal fünf Kilometer Küste ab. Kaum jemals fangen sie eine Gruppe vor der Einschiffung ab. Grotesker Restauftrag: das Einsammeln von Wasserleichen, jede Woche ein paar.
Omar al-Kholass, Küstenwache Misrata:
Im Norden Afrikas – keine 300 Kilometer vom Süden Europas entfernt – Szenen wie aus Dantes innerem Kreis der Hölle. Und die libyschen Patrouillen, die die Flüchtlinge aufhalten sollen, bleiben an immer der gleichen Stelle in den Dünen stecken.
Ähnlich sinnlos ist das, was ihre Kollegen auf dem Meer tun: zwei Schiffe für die Sicherung von 600 Kilometer Küste. Auf jedes Boot, das sie zufällig aufbringen, kommen viele Dutzend, die ihnen entwischen. Dann eine Entdeckung, die für das ganze Dilemma der Völkerwanderung in Richtung Europa steht: auf dem Deck liegt plötzlich ein kleiner Umschlag, entweder unter einer Palette hervor- oder aber aus dem Meer an Bord gespült. Der Kapitän reißt die Schutzhülle aus Plastik ab: "Ein Reisepass eines Flüchtlings aus Mali", sagt er. Das Mittelmeer: schon jetzt ein Massengrab.
Misrata - eines von 19 Abschiebegefängnissen in Westlibyen. 780 Flüchtlinge sitzen hier ein, zusammengepfercht, rechtlos, traumatisiert. Kein Arzt schaut nach ihnen, obwohl fast alle krank sind: Schussverletzungen, Hepatitis, Dengue, Aids, ein unbeschreiblicher Gestank. Vor Diktatoren geflohen, vor islamistischem Terror, vor dem Hunger. Zuerst war es eine Flucht, jetzt ist es ein Leidensweg.
Jerry Joha, Flüchtling:
Frank Okosta, Freund von Jerry:
Richard, Flüchtling:
Seku Seidi, Senegal:
Jerry und Frank:
In der Hauptstadt Tripolis: wohin man schaut Afrikaner, die auf einen Job warten, egal was für einen. Viele haben schon einen oder zwei gescheiterte Versuche hinter sich, ins gelobte Europa überzusetzen, jetzt sparen sie für die nächste Chance. Weil es keinen Weg zurückgibt, versuchen sie es immer wieder, solange bis sie wieder gefasst werden, bis sie es schaffen oder bis sie sterben.
Schon jetzt ist Libyen gespalten in zwei Teile, die Gegner im Westen und Osten bekämpfen sich in einem wieder aufgeflammten Bürgerkrieg. Weil der so viel Geld verschlingt, werden kaum noch Gehälter bezahlt. Doch damit nicht genug: es gibt eine neue, tödliche Gefahr: Am Tag unserer Ankunft in Misrata hat ein Selbstmordattentäter wieder einmal einen Checkpoint in die Luft gejagt, solche blutigen Anschläge des sogenannten Islamischen Staates häufen sich. Gerade mal 170 Kilometer ist die Terrorhochburg Sirt von hier entfernt.
Mohammed Abdel Quddus, Kommandant:
Die Lage ist brandgefährlich, immer mehr Einwohner aus Sirt fliehen mit all ihrem Habe vor den Terroristen, wie diese Familie. Nach unseren Informationen sollen es bereits mehr als 2000 IS-Kämpfer sein. Wenn die Terroristen nun auch noch Misrata bedrohen, dann hätten die überforderten Grenzschützer gar keine Chance mehr.
Die Küstenwache von Misrata hat derweil ihre dritte Patrouille an diesem Tag begonnen. Nachtschicht. Auch jetzt: kein Boot in Sicht, keine verzweifelten Flüchtlinge, die der Patrouille zufällig in die Arme laufen und noch etwas ist wie immer: die Geländewagen bleiben in den Dünen stecken.
Autor: Thomas Aders/ARD Studio Kairo
Stand: 31.05.2015 20:28 Uhr
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