So., 12.10.14 | 19:20 Uhr
Das Erste
Gaza: Leben im Ausnahmezustand
50 Tage dauerte der Gaza-Krieg. Mehr als 2150 Palästinenser kamen ums Leben, tausende suchten Zuflucht in den UN-Schulen. Fast alles haben sie verloren: ihre Wohnung, ihre Arbeit. Sie führen ein Leben in Not und ohne Perspektive. Besonders leiden die Kinder in Gaza. Viele wurden schwer verletzt, viele sind für ihr Leben traumatisiert. Niemand weiß, wie es weitergehen soll. Jeder hofft auf internationale, finanzielle Hilfen. Am Sonntag findet in Kairo die internationale Geberkonferenz zur Finanzierung des Wiederaufbaus statt.
Dieser Teil von Gaza-Stadt ist zum Symbol für das Leiden der palästinensischen Bevölkerung geworden. Hier in Sajaye tobte tagelang ein heftiger Boden- und Luftkampf zwischen der israelischen Armee und der islamistischen Hamas. Hunderte Zivilisten wurden dabei getötet. Die, die überlebten, verloren alles, selbst ihre Zukunft. Sechs Wochen nach Kriegsende treffen wir in Sajaye Shaima Raian. Sie arbeitet für UNICEF als Sozialarbeiterin. Täglich versucht sie, die traumatisierten Kinder von Sajaye einzusammeln, um mit ihnen zu arbeiten, ihnen irgendwie ein Stückchen Hoffnung und Wärme zu geben.
Shaima Raian: „Das war der 3. Krieg in 5 Jahren, mit jedem Krieg wird es schlimmer als zuvor. Es gab Zeiten, da wollte ich diese Arbeit aufgeben, aber die Kinder brauchen uns, wir müssen sie mental unterstützen, sie aus ihrem Albtraum herausholen.“ Und während sie die Kinder zusammenholt, beginnen einzelne sofort zu erzählen:
Nidaa: „Als die Israelis ihren Bomben auf uns warfen, versteckten wir uns und hatten Angst. Papa sagte, macht das Licht nicht an, damit sie uns nicht sehen. Wir versteckten uns in einem dunklen Raum.“ Marah „Wir flohen zum Haus unseres Onkels, dort spielten wir und dann fiel das Dach auf uns wg. des Bombardements, wir versteckten uns in einem Zimmer und schrien und die Familie meines Großvaters kam aus dem bombardierten Haus nicht mehr raus. Wir weinten nur.“
Während Shaima weiter die Kinder mitnimmt, versucht deren Seelen zu retten, versuchen die Bauarbeiter Sajaye wieder aufzubauen. Irgendwie. Einziges Baumaterial im Augenblick: Die vorhandenen Trümmer. Es fehlt an allem. Heute beginnt die internationale Geberkonferenz in Kairo, 4 Milliarden $ werden benötigt, sagt die palästinensische Autonomiebehörde, man fürchtet, dass nur knapp 1,6 Milliarden zusammenkommen werden. Könne das dennoch ein Neubeginn sein?
Shaima Raian: „Ich glaube nicht, daß irgendjemand was für uns tun wird. Sogar die Geberländer werden uns das Geld stehlen, 20% sollen erstmal für irgendwelchen Verwaltungskram weggehen und Gott weiß, wo der Rest des Geldes landen wird.“
Und die palästinensische Einheitsregierung? Kann die helfen?
Shaim: „Wir wünschen ihr das Beste. Hamas und Fatah sollen sich endlich mal versöhnen und was für uns tun, für unsere Stadt, genug ist genug. Aber sie werden nichts für uns tun. Und wie gesagt: Jeder hier wird nur das Geld für sich stehlen.“
In den Resten eines Warenhauses beginnt Shaima ihre Arbeit mit gruppentherapeutischen Übungen. Ein Gemeinschaftsgefühl soll hergestellt werden. Sie versucht den Kindern ein Stück Sicherheit zu vermitteln.
Shaima: „Entspannt Euch, wir lieben uns alle, das ist jetzt ein sicherer Ort. Hier droht keine Gefahr. Denkt an Euch und die anderen. Denkt an einen ganz sicheren Ort, einen Platz den ihr am meisten liebt, er wird uns vor neuen Bombardements beschützen. Und jetzt sprecht mir nach: Wir lieben uns gegenseitig.“
Shaima: „Wir wollen uns gegenseitig helfen. Atmet jetzt tief ein. Atmet aus, geht einen Schritt vor, öffnet die Augen und sagt nun erneut: Wir lieben uns gegenseitig.“ Shaima: „Die Kinder sind grundsätzlich sehr gewalttätig. Wenn wir sie vernachlässigen würden, wäre das ein Desaster. Sie haben soviel Erfahrung mit Gewalt, das ist inzwischen in ihrem Blut, sogar während unserer Übungen kommt es vor, dass sie sich prügeln und gegenseitig beschimpfen.“
Nach der Arbeit geht Shaima regelmäßig zum Strand. Ihre einzige Möglichkeit ein wenig zu entspannen. Dieser Job, Tag für Tag, er muss sie einfach müde machen.
Shaima: „Nein, mein Job macht mich nicht müde. Ich versuche zu helfen und das macht mich glücklich. Aber das Leben hier macht uns müde. Die Konflikte, Kriege, Probleme. Und alles fällt einfach auf unsere Köpfe. Alles fällt immerzu auf unsere Köpfe.“
Der Tag geht zu Ende. Morgen wird Shaima wieder versuchen, ihren Schützlingen zu helfen. Morgen ist ein neuer Tag. Ob sich in Gaza so schnell etwas ändern wird? Shaima hat nur wenig Hoffnung. Umso mehr arbeitet sie weiter mit den Kindern.
Autor: Richard C. Schneider / ARD Studio Tel Aviv
Stand: 13.11.2014 13:15 Uhr
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