So., 19.01.14 | 19:20 Uhr
Das Erste
Russland: Im Schneepanzer zu den Rentier-Nomaden
Nur mit dem Schneepanzer können wir sie finden, die Rentier-Nomaden, östlich des Ural, in Russlands Norden. Die Sümpfe hier frieren nur langsam zu. Sechs Stunden soll die Schüttelpartie eigentlich dauern.
Doch bald schon die erste Panne des rostigen Ungetüms: Irgendetwas stimmt mit dem Motor nicht, das Kühlwasser läuft schnell aus.
Fünf Pannen später wird die Lage ungemütlich: Temperatur und Stimmung sinken rapide, das Kühlwasser zum Nachfüllen muss inzwischen aus geschmolzenem Schnee gewonnen werden. Wir haben gerade ein Drittel der Strecke geschafft zeigt unser Navi.
Udo Lielischkies
Nach neun Stunden, auf halber Strecke, hat Fahrer Semjon die Schutzhütte gefunden: Ein Blockhaus, mit trockenem Feuerholz, Pritschen für die Schlafsäcke, ein Tisch. Es dauert nur wenige Minuten, bis die Einheimischen ein Feuer gemacht haben, mit unserem Satellitentelefon ruft Semjon einen Nachbarn an: Der soll uns hier rausholen und weiterfahren. Zeit für Gespräche. Die olympischen Spiele, im subtropischen Sochi? Ja, gehört haben sie davon. Aber einen Fernseher gibt es nicht, hier in der Wildnis.
Moskau, der Kreml – wir sind drei Tagesreisen entfernt…
Die Sonne steht auch Mittags noch tief, als endlich der zur Hilfe gerufene Schneepanzer ankommt. So schnell, als wolle er unseren verlorenen Drehtag wieder wettmachen.
Wir sind im „Autonomen Kreis der Chanten und Mansen“. Die Ureinwohner in Russlands Norden leben seit vielen Generationen von der Rentierzucht. Doch die steckt in einer tiefen Krise, weil die staatlichen Zuschüsse versiegen. Die Zahl der Tiere hat sich halbiert.
Wir brauchen einen Schlafplatz: Hütten, Licht, Wärme, mitten in der kalten Taiga – wir haben den Schlachtplatz gefunden.
Ungewohnte Bilder am nächsten Morgen: Das Fleisch wird zwischengelagert, bis langer Frost die Sümpfe auch für schwere Laster befahrbar gemacht hat.
Einmal im Jahr, im Dezember, treffen sich hier alle Brigaden eines staatlichen Rentierbetriebes, um sich gegenseitig beim Zählen und Schlachten zu helfen.
Semjon, der Vormann, notiert jedes Tier. Die, die in der Herde bleiben, werden markiert und gegen Milzbrand und Würmer geimpft.
Harte Arbeit, zehn Stunden pro Tag, auch für den erst fünfzehnjährigen Dima.
Ein Drittel der Tiere gehört privaten Züchtern, erklärt Semjon, der Rest seinem staatlichen Rentier-Unternehmen.
Von Sonnenaufgang bis spät in die Nacht arbeiten sie so.
Ein Mann
Unsere Kamera lenkt die Männer ab…
Diese Tiere müssen sie jetzt wieder einfangen.
Frühstückspause, als die Sonne endlich raus kommt. Wer Hunger hat schneidet sich ein Stück gefrorenes Rentierfleisch ab.
Alexei
„Ja,“ bestätigt sie. „Ein Rentierzüchterin da draußen im Zelt lebt bekommt gerade 15.000 Rubel, 350,- Euro. Davon muss sie ihre Kinder in der Stadt und sich selbst ernähren. Das reicht doch nicht.“
Über einhundert Tiere schlachten die Männer in eisiger Kälte pro Tag. Sie hier sind Tagelöhner, die Rentier-Nomaden selbst weigern sich, beim Schlachten der eigenen Herde mit zu helfen.
Wir haben eine der Nomadengruppen gefunden. Fast jeden Tag müssen sie mit ihren Schlitten weiter ziehen, ihrer Herde folgen, die oben in den Bergen nach Futter sucht.
Sie waren bereits am Schlachtplatz, erklärt er, nach einer Woche in warmen Holzhütten leben sie jetzt wieder alle gemeinsam in der Tschum, ihrem Zelt. Oft fahren sie so viele Stunden in eisiger Kälte.
Fahrer
Der Rastplatz, hier müssen sie jetzt ihr Zelt, die Tschum aufbauen. Es wird dunkel, und schnell immer kälter. Viele von ihnen wurden in der Tschum geboren. Doch jetzt droht diese Tradition auszusterben. Putins Russland hat andere Prioritäten als Überleben und kulturelle Identität dieser nordischen Urvölker.
Endlich brennt der Ofen. Auch der erst einjährige Nikita kann jetzt langsam auftauen. Für dieses harte Leben hier ein Lohn von gut dreihundert Euro? Sogar die Lebensmittel-Lieferungen, selbst die geschlachteten Rentiere, deren Fleisch sie essen, müssen sie davon bezahlen.
Oksana kommt aus der Stadt und hat sich in Jakov, den Sohn des Brigade-Chefs, verliebt. Bald will sie ihn heiraten.
Oksana
Jakov hat Glück gehabt: So wagemutig wie Oksana sind nur noch wenige junge Frauen. Die meisten Jugendlichen gehen den anderen Weg und verlasen die Tschum.
Am nächsten Morgen spannt Wassili, Jakovs Vater, seine Rentiere ein: Er will auf dem Schlachtplatz helfen. Treiben, nicht töten.
Brigadier
Jakov hat heute Dienst als Hirte. Einen Tag und eine Nacht lang wird er ihre große Herde oben in den Bergen vor Raubtieren schützen.
Jakov
Einen Bären hat er schon erlegt, auch Wölfe bedrohen seine Tiere. Jakov liebt diese Welt, so fern vom Medaillenfieber in Sochi.
Jakov
Das waren seine Winterspiele, das sind die Medaillen, von denen er träumt – oben in den Bergen, ganz allein…
Autor: Udo Lielischkies, ARD Studio Moskau
Stand: 15.04.2014 10:48 Uhr
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