So., 22.02.15 | 19:20 Uhr
Das Erste
Venezuela: Schlange stehen verboten
Vor Wochen wollte Anny Piamo schon alles zusammen haben, aber in Venezuela braucht es zum Einkaufen unendlich viel Geduld. Selbst wenn dieser Stoffladen gut bestückt erscheint, die Qualität ist schlecht, die Auswahl knapp und die Preise vier Mal so hoch wie im vorigen Jahr.
Ist der Paillettenstoff gekommen, fragt sie. Nein, kriegen wir auch nicht mehr rein.
Anny ist die Chefin einer Karnevalsgruppe und sucht bis zur letzten Minute Material für die Kostüme.
Das Gefühl alles zu bekommen was auf der Einkaufsliste steht, sagt sie, kennen wir nicht mehr, seit Venezuela in der Wirtschaftskrise steckt.
Anny Piamo, Vorsitzende Karnevalsverein Nuevo Reto:
So sind bei der Generalprobe am Abend vor dem ersten Karnevalsumzug viele Kostüme noch nicht fertig.
Als hätten sie vor 20 Jahren schon was von diesen Schwierigkeiten geahnt, nennt sich die Truppe Nuevo Reto - Neue Herausforderung!
Und die letzte Nacht vor der dem Auftritt wird eine Herausforderung, damit alles noch fertig wird für 50 Tänzer. 100 waren sie voriges Jahr, aber für so ein so großes Ensemble war diesmal kein Geld da.
Am nächsten Tag ist es nicht der Stress, der aus ihren Gesichtern spricht, sondern die Enttäuschung! Um zwei Uhr wollte der Gouverneur den Umzug starten. Um vier ist er immer noch nicht da. Seit Stunden stehen die Kinder bei vierzig Grad in der Sonne, als der Politiker endlich Zeit findet - sich feiern zu lassen.
Venezuela gehe es nicht schlecht sagt er auf die Frage, warum die Menschen in den Geschäften nichts finden und warum ihnen Geld fehle, um Kostüme zu kaufen. Der Umzug werde jedes Jahr größer, ich müsse nur richtig hinschauen.
Es ist diese politische Scheinwelt mit der der venezolanische Sozialismus das Land zu Grunde richtet. Die Partei baut Motivwagen mit denen sie die eigene politische Leistung lobt. 10 Jahre gute Arbeit propagiert dieser.
Als die Sonne untergeht ist den Kindern der Spaß längst vergangen, und als es dann endlich losgeht, haben die Parteiwagen Vorfahrt. Denn diesen Umzug veranstaltet die Regierung. Freiwillig tanzen sie hier nicht, erzählt Anny. Aber nur wer hier mitmacht, darf beim richtigen Umzug am nächsten Tag um das Preisgeld für die beste Show mitkämpfen.
Alles auf dieser staatlich organisierten Politparade ist Propaganda, und die Frau des Gouverneurs darf die Königin der Narren sein.
Die echte Welt sieht anders aus:
In Venezuelas Hauptstadt brennen an Karneval Straßenbarrikaden. Protest, Tränengas, Verhaftungen und ein neues Gesetz, das Polizisten erlaubt in Notwehr auf Demonstranten zu schießen. Und sie schießen. Drei Studenten kommen ins Krankenhaus, die Kugeln stecken in ihren Rücken. Notwehr?
Präsident Maduro braucht Schuldige für die Wirtschaftskrise, lässt politische Gegner verhaften, um angebliche Putschversuche zu vereiteln. Er diskreditiert Oppositionspolitik als Verschwörung, hat aber selbst kein schlüssiges politisches Konzept.
Victor Maldonado, Direktor Industrie und Handelskammer Caracas:
Also die Produktion anzukurbeln, anstatt Supermarktbesitzer einzusperren oder per Gesetz Warteschlangen zu verbieten.
Chavistische Scheinwelt. Wer die Augen zumacht, sieht seine Probleme nicht. Die Schlangen sind länger als je zuvor, aber in die Tiefgaragen der Einkaufszentren verbannt.
Wir drehen sie, obwohl das streng verboten ist.
Wer rechtzeitig kommt, darf heute zwei Dosen Milchpulver kaufen. Doch als unten noch 500 Menschen anstehen, gibt es oben nur noch dreißig Dosen. Dann merkt ein Spitzel, dass wir mit dem Handy Bilder machen und wir werden verhaftet und zwei Stunden festgehalten.
Viele die im Supermarkt was abbekamen, verkaufen die Ware anschließend auf dem Schwarzmarkt. Die, die nicht anstehen wollen, zahlen hier den fünffachen Preis.
Voxpop:
Der Rückhalt den die Sozialisten unter Chavez noch hatten, bröckelt unter Maduro, trotz unaufhörlichem Eigenlob und ständiger Propaganda. Die verbreiten auch die Reporter dieser staatlichen Zeitung, aber selbst hier ungewohnte Einsicht.
Manuel Lopez, Wirtschaftsredakteur Correo de Orinoco:
Anny ist das beste Beispiel. Sie ist auch Chavistin, aber von der jetzigen Regierung unendlich enttäuscht. Noch nie war es so schwer ihre Show auf die Straße zu bringen. Am Ende sah man den Kostümen nicht an, wie viel Mühe sie gekostet haben. Aber erst in ein paar Tagen wissen sie, ob sie das Preisgeld von umgerechnet 400 Euro abgeräumt haben, als sie zu Calipsoklängen die Scheinwelt der Politiker kurz mal vergessen haben.
Es hat tatsächlich gereicht, um das Preisgeld von umgerechnet 400 Euro abzuräumen, als sie beim Takt des Calipso die Scheinwelt der Politiker kurz mal vergessen haben.
ARD Studio Mexiko/Peter Sonnenberg
Stand: 22.02.2015 20:29 Uhr
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