So., 14.04.19 | 19:20 Uhr
Das Erste
Weißrussland: Tschernobyl und die Folgen
Früher waren das einmal Dörfer. Jetzt sind nahe der ukrainisch-weißrussischen Grenze nur noch Hüllen übrig. Die Natur holt sich das Land zurück, seitdem das Leben nach dem Reaktorunfall im benachbarten Tschernobyl jäh endete. Wenige Menschen weigerten sich damals, die Sperrzone zu verlassen. Babuschka Galina ist 90 Jahre alt. Sie wollte auf keinen Fall ihre Tiere zurücklassen, die wären ja verhungert. Und in einer Wohnung in der Stadt neu anzufangen: Für sie unvorstellbar.
"Die Strahlung – die sieht man ja nicht einmal"
"Fast alle, die damals umsiedelten, sind gestorben. Aus unserem Dorf gibt es nur noch einen Mann und ein paar Frauen, die Frauen sind ja ohnehin etwas stärker. Fast alle Männer sind tot", erzählt Galina Adamovna. Auch Galinas Ehemann. Er starb vor drei Jahren. Seitdem lebt ihr Sohn Leonid bei ihr. Er konnte seine alte Mutter nicht allein lassen. Zu ihm nach Minsk, in die Hauptstadt, wollte sie nicht, obwohl dort die medizinische Versorgung viel besser wäre. Jetzt leben sie hier gemeinsam von ihrer kleinen Rente.
"Warum sollte ich Angst haben. Ich habe einen schrecklichen Krieg erlebt, verbrannte Menschen gesehen. Das war furchteinflößend. Aber die Strahlung – die sieht man ja nicht einmal", so Galina Adamovna. Als klar war, dass Galina ihr Haus nicht verlassen wollte, wurde es von den Behörden speziell gereinigt. "Anfangs haben sie mir einen Geigerzähler umgehängt, um die Strahlung zu messen hier vor meiner Brust. Sie haben im Ofen gemessen und in den Betten. Ganz schön viel Strahlung", erzählt Galina Adamovna.
Doch das Leben vor dem "großen Unglück", wie sie es nennt, sei so schön gewesen, dass sie es nie loslassen wollte. Deshalb zeigt sie ihrem Sohn auch immer wieder die alten Bilder. "Natürlich bin ich traurig. Ich erinnere mich an alles, was hier war. Ich sehe die schönen Häuser unseres Dorfes vor mir. Überall Laternen. Alles wunderschön beleuchtet. Junge Leute trafen sich und waren ausgelassen. Jetzt ist es hier still wie im Himmel", sagt Galina Adamovna.
Evakuierte Dörfer sind zum Reich der Tiere geworden
Doch das stimme nicht ganz, meint der Biologe Maxim Kudin. Nachdem der Mensch aus der Sperrzone verschwand, kehrte die Natur zurück. Immer wieder entdeckt er neue Spuren, wie die hier von Elchen. Dabei ist die Strahlung noch lange nicht vorbei. "An manchen Stellen haben wir 1.500 bis 5.000 Mikrosievert, also richtig starke Strahlung. Radioaktivität ist immer gefährlich. Menschen können hier eigentlich nicht leben", so Maxim Kudin, Biologe.
Aber Huftiere, wie diese Elche. Maxim entdeckt auch immer mehr Tiere, die vor dem Reaktorunfall überhaupt nicht mehr hier lebten, wie diese Wisente. Sie sind zurückgekehrt. Es soll sogar Braunbären geben. Dabei fällt auf, dass die Biologen keine missgebildeten Tiere oder Kadaver mehr finden, wie noch am Anfang.
Wo früher Deutsch unterrichtet wurde, leben nun Tiere
"Radioaktivität ist immer gefährlich für Menschen wie für Tiere. Aber Tiere leben nicht lange genug, dass sich die Strahlung in ihren Körper anreichert und an die nächste Generation weitergegeben wird", erklärt Maxim Kudin, Biologe. Und so haben sich Tiere auch in den verlassenen Häusern und Dörfern eingenistet. Maxim beobachtet das seit 20 Jahren, auch wenn sich dort die neuen Bewohner nicht sofort zeigen. Die evakuierten Dörfer sind zum Reich der Tiere geworden. Wo früher Deutsch unterrichtet wurde, leben nun Tiere.
"Sie haben die Dörfer zurückerobert. Wenn wir uns das Monitoring anschauen, dann nutzen die Eulen jetzt die Dachgeschosse und Dachse richten sich in den Fundamenten ein. Im Herbst kommen vor allem Huftiere hierher, weil hier unglaublich viele Apfel- und Pflaumenbäume wachsen", sagt Maxim Kudin, Biologe. Seine Beobachtungen fließen in eine Studie, die weltweit Aufmerksamkeit erregt und künftig belegen soll, wie sich Strahlung langfristig auf Mensch und Tier auswirkt.
"Wenn ich umgezogen wäre, wäre ich längst gestorben"
Noch tobt ein Streit unter Wissenschaftlern darüber, wie gefährlich radioaktive Strahlenbelastung ist. Ein Teil der Strahlung scheint jetzt, nach 33 Jahren, langsam in die tieferen Bodenschichten zu wandern. Dennoch bleibe die Gefahr, meint Maxim, vor allem in den Wäldern, wo Pilze und Moos das gefährliche Cäsium aufsaugten.
Und so ist die Sperrzone mittlerweile ein riesiges Freilandlabor, in dem der Mensch nur Randfigur ist. Der Anbau von Gemüse ist bis heute verboten. Und so kommt alle zwei Tage ein Lebensmittelwagen, der die letzten verbliebenen Bewohner mit frischem Obst und Gemüse versorgt. Auch Leonid macht hier seine Einkäufe. Aus der Zeitung haben sie erfahren, dass ein neuer Atommeiler, 500 km von hier entfernt, im Dezember eröffnet werden soll. Neuste russische Technologie, heißt es. Galina ist skeptisch.
"Früher haben die Menschen einfach das Land gepflügt und ihr Essen gehabt. Jetzt, wo wir diese atomaren Dinger erfunden haben, sollen wir wohl Atome essen", so Galina Adamovna. Wieso Galina – oder auch andere Bewohner der Sperrzone – trotz der Strahlenbelastung so alt werden können, bleibt ein Rätsel. "Ich bedauere nicht, hier geblieben zu sein. Wenn ich umgezogen wäre, wäre ich längst gestorben. So bin ich eben", findet Galina Adamovna.
Ihr Glück ist ihr Sohn Leonid, dass er keine Angst hat und sie unterstützt. Denn all die anderen, mit denen sie früher hier vor dem Haus saßen, sind längst weggezogen oder gestorben.
Bericht: Birgit Virnich / ARD Studio Moskau
Stand: 23.04.2019 11:07 Uhr
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