Mo., 12.06.17 | 04:50 Uhr
Das Erste
Frankreich: Macron – "En marche" auch bei der Parlamentswahl?
Jung, unerfahren im Polit-Geschäft, noch nie politisch engagiert gewesen, vor vier Monaten die Entscheidung Emmanuel Macron zu unterstützen – und jetzt Kandidat für die Parlamentswahlen: Cedric Villani, Frankreichs berühmtester Mathematiker, Träger der Fields-Medaille, was so etwas wie der Nobelpreis für Mathematik ist, will in die Niederungen der Politik, weil er will, dass sich in Frankreich endlich etwas ändert.
Ein Dandy als Abgeordneter?
Ein Parlamentskandidat der eher wie ein englischer Dandy aussieht – immer mit Dreiteiler, Schal-Tuch und Spinnenbrosche. So hat bisher in Frankreich kein Politiker ausgesehen. Aber in diesen Tagen scheint sich im Land alles zu verändern – auch die Politiker.
Cédric Villani hakt das Thema schnell ab: "Mein Anzug, mein Dresscode – das bin ich. Mehr kann ich dazu nicht sagen. Man darf nicht denken, dass Mathematiker alles planen oder berechnen. Aber sie sind hartnäckig, und wenn sie einmal etwas beschlossen haben, halten sie sich daran."
Auszeit für die Wissenschaft – stattdessen Wahlkampf, bis zu drei Veranstaltungen täglich. Cédric Villani ist Kandidat im Département Essone, etwa 30 Kilometer südwestlich von Paris: Alte Dörfer, idyllische Plätze – aber trotzdem entsteht hier ein kleines Silicon Valley.
Interessanter Wahlkreis
Cédric Villani gefällt diese Mischung: "Diese Gegend ist einzigartig. Auf dieser Hochebene gibt es renommierte Hochschulen, Universitäten, Forschungszentren – und gleichzeitig Landwirtschaft. Eine Mischung aus Zukunft und Vergangenheit."
Hier wohnt Cédric Villani seit vielen Jahren – hier ist er Kandidat für "La République en Marche".
Am späten Nachmittag stellt sich der 43-Jährige im kleinen Dorf Saint Aubain seinen Wählern. Eine Bewohnerin des Dorfs spricht ihn an: "Wenn man sich Ihre glänzende Karriere ansieht, hätte ich gedacht, dass man Ihnen sofort einen Ministerposten anvertraut. Ihre Bescheidenheit, wie jeder normaler Mensch, nur als Abgeordneter zu kandidieren, hat mich sehr berührt."
Villani bedankt sich: "Danke schön! Ich hatte tatsächlich Angebote, in der Regierung mitzuwirken. Die Bedingungen waren aber nie die richtigen… Ich denke, man muss beim Volk anfangen."
Auf dem Weg zum Politiker
Ein bisschen Eitelkeit, ein bisschen Kokettieren – der Wechsel vom Hörsaal in die Alltagspolitik scheint dem berühmten Mathematiker leicht zu fallen. Etwa die Hälfte aller Kandidaten von "La République en Marche" kommt aus der Zivilgesellschaft und hatte noch nie ein politisches Mandat inne – ein Experiment, doch Emmanuel Macron will die Republik und ihre Politiker grundlegend verändern.
Im Wahlkreis von Cédric Villani sieht man dieses Experiment aber eher skeptisch: "Er muss sich erstmal beweisen. Ich bin noch nicht überzeugt. Wir hatten selten Präsidenten, die gehalten haben, was sie versprochen haben", sagt Daniel Cossin. Auch der Geschäftsmann Jean-Laurent Bernert hat seine Zweifel: "So viel Wechsel auf einmal – das ist vielleicht ein bisschen zu viel Neues. Das Argument, zu behaupten: 'Ich bin Mathematiker und ich werde eure Probleme lösen!', das driftet meiner Meinung nach an der Realität vorbei."
Das Establishment ist frustriert.
Das finden auch die Gegenkandidatinnen von Cédrich Villani. Sie haben jahrelang für die Konservativen und die Sozialisten Politik gemacht, haben sich mit dem Klein-Klein ihres Wahlkreises abgemüht. Und jetzt sehen sie, dass ihnen der exzentrische Mathematiker ein bisschen die Show stiehlt. Laure Darcos, Kandidatin Les Républicains: "Ich denke, wir müssen uns hinterfragen: Warum hat Macron so einen Riesenerfolg? Das hat gezeigt, dass die Franzosen die traditionellen Parteien so nicht mehr wollen, ein bisschen starr und intolerant. Man hört oft: 'Ihr seid doch alle gleich. Ihr bedient euch, anstatt für uns da zu sein.' Das habe ich aufgegriffen. Deshalb ist mein Slogan, den mein Sohn erfunden hat: 'Bei Laure geht es um euch.'"
Laure Dacros, die Konservative, die während des Präsidentschaftswahlkampfs das Gefühl hatte, es würde nur noch über die Affären ihres Kandidaten Francois Fillon gesprochen werden, glaubt, dass viele Menschen das Vertrauen in die Politik verloren haben. Sie gibt nicht auf: Stundenlang geht sie von Tür zu Tür und kämpft für ihre konservative Partei, die aber die Hälfte ihrer bisherigen Parlamentssitze verlieren könnte.
Optimismus bei En Marche
Auch Cédric Villani macht sich wieder auf den Weg. In seinem kleinen Parteibüro wirkt alles noch ein bisschen improvisiert. Er und seine jungen Mitarbeiter sind erst vor vier Wochen hier eingezogen. Die meisten haben wie er keine wirkliche politische Erfahrung. Keiner von ihnen hätte gedacht, dass "La République en Marche" jetzt vielleicht sogar die absolute Mehrheit in der Nationalversammlung gewinnen könnte. Villani stellt eine Wendestimmung fest: "Traditionsgemäß sind wir ja pessimistisch, aber jetzt spürt man, dass der Optimismus wiederkommt. Das Frankreich von heute ist nicht mehr dasselbe, wie das vor zwei Monaten. Wir heben wieder den Kopf in die Höhe. Wir sehen auch, dass unsere Kollegen im Ausland mit sehr viel Interesse beobachten, was hier geschieht. Während der Wahlen hatten wir große Angst, während der Kampagne zur Präsidentschaftswahl. Jetzt haben wir wieder viel mehr Vertrauen und gehen vorwärts."
In der französischen Politik gibt es jetzt Platz für neue Gesichter. Für den Mathematiker Cédric Villani ist das, was gerade geschieht, eine kleine Revolution. Die große französische Revolution sei blutig gewesen, meint er. Die kleine Revolution jetzt verlaufe voller Vertrauen.
Autorin: Ellis Fröder, ARD Paris
Stand: 16.07.2019 00:43 Uhr
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