Mo., 28.11.16 | 04:50 Uhr
Das Erste
Argentinien: Frauen gegen Machokultur
Sie wollen auffallen, suchen Aufmerksamkeit. Und die Protestbewegung wird immer größer. Vorgestern ziehen zehntausende Frauen durch das Zentrum der argentinischen Hauptstadt. Denn trotz vieler sozialer und politischer Veränderungen, die Diskriminierung von Frauen, die Gewalt gegen sie, ist nach wie vor alltäglich.
"Nicht noch eine!"
Basta mit dem Machismus, sagt die Mitbegründerin der Bewegung "Ni una menos", sinngemäß "nicht noch eine", Mariana Carbajal: "Wir Frauen müssen eine Revolution machen. Sonst wird es immer so weitergehen mit den Frauenmorden und der Gewalt, die wir ständig in allen möglichen Bereichen erleben. Das Wichtige ist, dass wir das Thema sichtbar machen, auf der Straße sind und nicht mehr einfach den Mund halten."
Lautstark marschieren sie, wie schon einige Male in den letzten Monaten. Ein Weckruf an die Gesellschaft, denn die Gewalt gegen Frauen hat sogar zugenommen. Was da so in den häuslichen Gemeinschaften passiert, soll nicht länger ein Tabuthema bleiben.
Eine Demonstrantin sagt uns: "Unsere Freundin wurde von ihrem Ex-Mann umgebracht, vor den Augen des gemeinsamen Sohnes."
Femizid ist kein einfacher Mord
286 Frauen ermordet im letzten Jahr, meist vom Ehemann, Ex-Partner oder Freund. Alle 30 Stunden stirbt in Argentinien eine Frau durch Machogewalt. Die versucht Monica Cuñarro mit aller Leidenschaft auf der Justizebene zu bekämpfen. Die Staatsanwältin hat gerade einen Täter, der seine Lebenspartnerin vor den Augen ihrer Kinder erstochen hat, zu lebenslänglich verurteilt - ein seltener juristischer Erfolg. Denn meist bleiben Strafen, wenn es überhaupt zur Verurteilung kommt, eher milde, wie Generalstaatsanwältin Mónica Cuñarro erklärt: "Dabei ist der Femizid mehr als ein einfacher Mord. Es ist ein Mord mit dem konkreten Ziel, eine Frau zu töten nach einer langen Zeit des Heruntermachens, Erniedrigens, Schlagens und Misshandelns. Der Täter hat das Leben der Frau jahrelang kontrolliert und entscheidet selbstherrlich über den Tod der Frau."
Seit 2012 steht der "Femizid", die Tötung einer Frau, als eigenständiger Tatbestand im argentinischen Strafgesetzbuch. Verändert hat sich wenig. Denn auch die Justiz wird dominiert von Männern, sagt die Staatsanwältin. Auf zehn männliche Richter kommt nicht einmal eine Frau. Generalstaatsanwältin Mónica Cuñarro: "Der Justizapparat läuft augenscheinlich sehr korrekt, aber auch da gibt es den Machismus. An den entscheidenden Stellen sitzen vorwiegend Männer, obwohl bei den Bewerbungen auf diese Posten Frauen oftmals viel besser qualifiziert sind."
Die Kultur verändern
Vor dem Justizpalast in Buenos Aires machen Aktivistinnen von "Ni una menos" mobil. Der Bewegung, die vor anderthalb Jahren gegründet wurde, geht es nicht nur darum, dass Straftäter entsprechend verurteilt werden, es geht darum eine Kultur zu verändern, in der Frauen weniger zählen als Männer. Das will nicht nur Staatsanwältin Monica Cuñarro, sondern auch Mariana Carbajal von "Ni una menos". Die Journalistin und Buchautorin hat ihr Leben dem Kampf gegen die Gewalt gegen Frauen gewidmet. Für die Mutter zweier Kinder ist klar: Es ist höchste Zeit, dass sich was in den Köpfen der Menschen verändert: "Machismus ist ein Grundübel in einer Kultur, in der Frauen den Männern immer noch nicht gleichgestellt sind. Das ist der Schlüsselgedanke zu dem ganzen Problem. Wenn dann auch noch Straflosigkeit dazu kommt und ein entsprechender Schutz für Frauen fehlt, verstärkt es das Problem. Wir von 'Ni una menos' sagen: Wir Frauen müssen aufstehen, nicht nur gegen Frauenmorde, sondern auch gegen die Diskriminierung der Frau in der Gesellschaft."
Für Mariana ist es wichtig, nicht nur mit Protestaktionen auf die Thematik aufmerksam zu machen, sondern dafür zu sorgen, dass auch sachlich über das Problem diskutiert wird. Regelmäßig tritt sie dazu in Fernsehsendungen auf. Mariana Carbajal von "Ni una menos" erklärt: "Viele Medien berichten nur, wie der Mann sie umgebracht hatte, den Hals aufgeschnitten, sie erstochen, sie verbrannt. Das bringt aber nichts, um die Situation zu verändern. Sie sollten eher hintergründig berichten, damit es hier aufhört mit den Frauenmorden."
Opfer in allen Gesellschaftsschichten
Die Gewaltspirale in der Machogesellschaft beginnt meist dann, wenn Frauen aus dem Diktat einer traditionellen Beziehung ausbrechen. Selbstbewusstsein entwickeln, eigene Wünsche realisieren, die dem Partner nicht passen. Elena war in so einer Situation, wurde emotional erniedrigt, misshandelt. Elena Bonini beschreibt den Mechanismus: "Man denkt immer, es kommt nur in den unteren Gesellschaftsschichten vor. Du aber hast eine Berufsausbildung, gehörst zur Mittelklasse, dann dürfte so etwas auch nicht passieren. Und wenn doch, naja, dann bekommst Du das Gefühl selbst schuld sein. Aus diesem Stigma herauszukommen, ist unglaublich schwer."
Argentiniens Frauen wollen aber aus dem verkrusteten Machosystem ausbrechen. Immer öfter machen sie so ihren Forderungen Luft. Eine Demonstrantin fordert Gleichberechtigung: "Unsere Protestmärsche richten sich gegen jede Gewalt gegen Frauen, die in keinster Weise zu rechtfertigen ist. Frauen müssen gleiche Rechte haben, denn so viele, meine Freundinnen, meine Schwester, ich selbst leiden darunter jeden Tag."
Ein männlicher Demonstrant kritisiert seine Geschlechtsgenossen: "Die meisten Männer hier wollen aber nichts von Gleichberichtigung wissen. Meiner Meinung nach attackieren, schlagen und morden Männer, weil sie Angst vor Frauen haben und sie lieber weiter dominieren wollen."
Davon aber haben diese Frauen genug. Vor allem die Stimmen der jüngeren werden immer lauter, die Proteste häufiger: sie wollen nicht aufgeben.
Autor: Michael Stocks, ARD Rio de Janeiro
Stand: 13.07.2019 08:41 Uhr
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