Mo., 03.09.18 | 04:50 Uhr
Das Erste
Spanien: Eine Stadt nimmt ab
Abmarsch ist morgens um sieben, auch wenn's noch schwerfällt. Und dass es schwerfällt, weiß Carlos Pineiro nur allzu gut. Der Hausarzt geht deswegen höchstpersönlich und jeden Tag mit seinen Patienten auf die "Caminata", die Wanderung. Je nach Wetterlage sind es 20 bis 40 Teilnehmer. Übergewichtige sind dabei, aber auch Herzpatienten oder Diabetiker, die nicht wieder zunehmen wollen. Und nach einer Dreiviertelstunde fühlen sie sich alle richtig gut, auch José Meizoso Alonso: "Meine Freunde sind alle rund wie die Fässer, trinken zu viel Bier. Und dann heißt es: ab in den Sarg! Carlos, unser Arzt, sagt: 'Bewegt Euch, esst nicht so viel, schluckt nicht so viel Pillen, das ist gesünder.' Und das versuche ich jetzt.“ – "Du willst nicht wie deine Freunde enden?" "Nee, ich habe noch Lust zu kämpfen!"
Narón soll sein Leben ändern
Es braucht schon viel Zuversicht, um daran zu glauben, dass man Tausende von Menschen gleichzeitig dazu bringen kann, ihr Leben zu verändern. "Carlos ist ein Verrückter", hieß es am Anfang. Aber er hat Narón in Bewegung gebracht, eine Kleinstadt in Galizien, am äußersten Nordwestzipfel Spaniens, in der mittlerweile fast 4000 Menschen, Junge und Alte, Gesunde und Kranke, den kollektiven Aufbruch gewagt haben. Und dabei haben sie nebenbei ein ganz neues Gemeinschaftsgefühl entdeckt.
Bohnen säen ist Schwerstarbeit. Hochkonzentriert geht die Truppe aus dem Kindergarten zu Werk. Denn jetzt wird noch eins daraufgesetzt – zu jeder Bohne kommt ein Maiskorn. Und wozu Maiskörner da sind, das weiß nun wirklich jeder: "Da wächst jetzt Popcorn draus!" Naja, nicht ganz, aber jetzt kommt Lorenzo ins Spiel. Der kann erklären, dass vor dem Popcorn der Maiskolben da war, an so großen Pflanzen. Er kann zeigen, wo die Äpfel für den Apfelsaft wachsen. Und den Hühnern die Eier klauen darf man bei Lorenzo auch. Der 80-jährige Rentner ist einer von den vielen Freiwilligen, die mit Spaß und Überzeugung beim Gesundheitsprojekt mitmachen. Kinder, glaubt er, haben ein Recht auf Tradition: "Ich zeig ihnen, dass der Salat und die Krautköpfe etwas Gutes sind… Damit es ganz normal wird, so etwas zu essen. Wie sollen sie jemals wissen, ob es ihnen schmeckt, wenn sie es nicht kennenlernen?"
Neun Kilo weniger – Alesandra ist so etwas wie eine Veteranin in Carlos Pineiros Projekt. Miguel, auch zum Kontrolltermin da, ist noch nicht so lang dabei. "Aber ich glaube, Miguel, wenn Du das mit den 2000 Schritten jeden Morgen durchhältst, dann bis Du auf einem richtig guten Weg", sagt ihm Carlos. Das Wichtigste, finden alle, die im Projekt eingeschrieben sind: das Wichtigste ist, dass wir nicht allein sind, wie auch Miguel Rodríguez Aneiros meint: "Es gibt einen Vorteil, wenn man das zusammen macht: Du willst vor den anderen nicht blöd dastehen. Also: an manchen Tagen, wenn Du eigentlich keine Lust hast, aufzustehen, stehst Du trotzdem auf." Alesandra Medín Santos pflichtet ihm bei: "Wenn der Nachbar auch mitmacht, dann kriegst Du so ein 'Hey, wir schaffendas-Gefühl."
Lebensführung und Tradition
Jeder zweite erwachsene Spanier ist übergewichtig, die Rate der fettleibigen Menschen hat sich in den vergangenen 20 Jahren verdoppelt. In Galizien, der armen Region im Nordwesten, ist das besonders sichtbar: hohe Arbeitslosigkeit, wenig Bewegung – Übergewicht hat vor allem mit Armut zu tun, wie Carlos Pineiro erklärt: "Klar ist jeder für seine Gesundheit selbst verantwortlich. Aber es wäre ein Fehler, dem Einzelnen die Schuld an dieser Krankheit zuzuschieben. Es gibt ein soziales Umfeld, das Übergewicht begünstigt."
Meeresfrüchte und Fisch waren früher in Galizien ein Alltagsessen. Heute sind viele dieser Produkte teuer geworden. Im Einkaufswagen landen dann oft Fleisch, Brot, oder Eier. Das ist günstiger und schnell gekocht. Müsste nicht sein, findet Diego Platas. "Guck mal, heute mach ich Sardinen, Sardinen haben gerade Saison. Das ist blauer Fisch mit gesunden Fetten, und gar nicht teuer." Zehn Restaurants in Narón sind wie das von Diego Teil des Gesundheitsprojekts. Auftrag: die Rückkehr zur atlantischen Küche. Und zwar so, dass sie jeder nachkochen kann. Nachfragen von glücklichen Gästen sind dabei ausdrücklich erwünscht.
Diego Platas beruhigt: "Das ist doch kein Hexenwerk. Behandle ein gutes Produkt gut und genieß es, egal ob's drei Minuten dauert oder eine Stunde. Aber die Menschen nehmen sich einfach nicht mehr die Zeit zum Kochen!"
Dass ein Gesundheitsprojekt auf die Expertise von Köchen, Rentnern und Patienten setzt, ist mittlerweile auch Thema auf Fachkongressen. Was in Narón passiert, ist so noch nicht dagewesen, finden Wissenschaftler, und deswegen absolut preiswürdig, wie Evan Woodward von der Europäischen Gesellschaft zur Erforschung der Adipositas meint: "Diese Initiative ist einzigartig. Sie versucht wirklich, jeden einzelnen Bürger in der Stadt zu erreichen. Das haben wir bisher noch nirgendwo gesehen."
Und damit es funktioniert, darf es auf keinen Fall langweilig werden. Das ist die oberste Regel, die sich auch die örtlichen Schulen verordnet haben. Kinder sollte man nicht missionieren, sondern motivieren, fanden die Sportlehrer. Und die Kinder durften einfach mal ausprobieren, was schon den Großeltern Spaß gemacht hat: "Die alten Spiele hatten alle längst vergessen. Aber wir haben sie wieder ausgegraben." "Und wenn ich mal eine Regel vergessen haben, frage ich einfach meine Großeltern, wie's geht." "Beim Fußball sind Jungs und Mädchen immer getrennt. Aber die alten Spiele können wir alle zusammenspielen."
In den nächsten zwei Jahren sollen bis zu 12.000 Menschen in Bewegung gebracht werden. Die Projektleiter sind überzeugt, dass sie das hinkriegen. Wir haben gute neue Ideen entwickelt, sagen sie, aber wir haben uns auch an unsere Geschichte erinnert. Und dabei haben wir einen großen Schritt nach vorn gemacht.
Autorin: Natalia Bachmayer, ARD Madrid
Stand: 27.08.2019 22:41 Uhr
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