Warum ist die Lage um die Westsahara so kompliziert?
Interview mit Korrespondent Stefan Schaaf
Die Situation der Westsahara ist kompliziert und seit langer Zeit verfahren. Wegen eines einzigen Worts von UN-Generalsekretär Ban Ki Moon hat sich die Lage jetzt zugespitzt. Was genau passiert ist und weitere Hintergründe zum Konflikt mit Marokko, erklärt Korrespondent Stefan Schaaf im Interview.
Warum spitzt sich gerade jetzt die Lage um die Westsahara zu?
Der Anlass war ausgerechnet eine Friedensmission. UN-Generalsekretär Ban Ki Moon reiste im Frühjahr in die Region und besuchte auch die Flüchtlingslager der Sahraouis auf der algerischen Seite. Und dabei sprach ausgerechnet der oberste Diplomat der Weltgemeinschaft das No-No-Wort aus: "Besatzung". Gemeint war Marokko. Das sah postwendend rot, organisierte sofort eine Demonstration gegen die Vereinten Nationen im Allgemeinen und Ban-Ki Moon im Besonderen.
Mehr als eine Million Menschen nahmen an dem Protest in Rabat teil. Und dann wurden auch noch 81 zivile Mitarbeiter der UN-Friedensmission ausgewiesen, ein militärischer Stützpunkt der Blauhelme musste ebenfalls geschlossen werden. Marokko gegen den Rest der Welt … Der UN-Sicherheitsrat hat am 29. April die UN-Friedensmission in der Westsahara verlängert und Marokko aufgefordert, alle UN-Mitarbeiter bis Ende Juli wieder zurückkehren zu lassen. Das Ultimatum läuft also.
Warum verweigert sich Marokko einem Referendum, das die Vereinten Nationen seit dem Abzug der Kolonialmacht Spanien 1975 fordern?
Die Westsahara ist die "heilige Kuh" Marokkos, und da herrscht bei fast der gesamten Bevölkerung des Landes Einigkeit. Die Westsahara-Frage gilt seit 40 Jahren als nationale, ja heilige Sache, Zweifel an dieser Politik werden mit Landesverrat gleichgesetzt. Historisch geht das zurück auf die bedeutendsten Dynastien in Marokkos Geschichte, die in der Westsahara ihre Wurzeln hätten.
Praktische Gründe sind sicherlich auch nicht ganz unwichtig: zum Beispiel Rohstoff-Vorkommen wie Phosphat, Erdöl vor der Küste und auch überaus reiche Fischgründe im Atlantik. Das ist der Überbau für Marokkos Westsahara-Politik. Völkerrechtliche Bedenken spielen dabei eine eher untergeordnete Rolle.
Die gesamte Außenpolitik Marokkos stehe faktisch unter dem Primat der Westsahara, hat ein Universitätsprofessor der Neuen Züricher Zeitung einmal gesagt. Seinen Namen wollte er aber nicht nennen.
Dass Marokko einen großen Teil der Westsahara quasi besetzt hält, wird international von vielen Seiten kritisiert. Warum erhöht die internationale Gemeinschaft nicht den Druck auf Marokko?
Warum kooperiert die Europäische Union gerade mit der Türkei? Weil man in der Flüchtlingsfrage aufeinander angewiesen ist. Genauso verhält es sich mit Marokko. Das Königreich sitzt gerade am längeren Hebel. Die Amerikaner sehen in dem Maghreb-Land einen wichtigen Partner im Kampf gegen den Terrorismus: Es war eines der wenigen Länder in der Region, in dem der "arabische Frühling" nur kurzzeitig zu Turbulenzen führte, jetzt erscheint es als sehr stabiler Anker in der Region.
Auch Europa und vor allem Spanien arbeiten mit Marokko eng zusammen, wenn es um Jihadisten und auch Flüchtlinge geht. Nicht ganz unwichtig: von Tanger (Marokko) nach Tarifa (Spanien) sind es gerade mal gut 30 Kilometer. In den spanischen Exklaven Ceuta und Melilla (auf marokkanischem Boden) halten nur Grenzzäune die Flüchtlinge aus Afrika ab. Wenn also Marokko die Zusammenarbeit aufkündigen würde, hätte Europa ein Problem. Und zwar ein großes.
Welche Rolle spielt die Europäische Union in diesem Zusammenhang bzw. kann sie spielen?
Dann wäre da noch die Frage: Wer macht in der Europäischen Union eigentlich die Außenpolitik? Frankreich versteht sich jedenfalls als Schutzmacht Marokkos und verteidigt es gegen zu massive Kritik. Auch Spanien zeigt sich in der Bewertung Marokkos eher gemässigt verhalten. Manchmal traut sich eine Institution der EU doch aus der Deckung. Der Europäische Gerichtshof hatte ein Handelsabkommen mit Marokko für ungültig erklärt, weil es auch die Westsahara mit einbezog. Die Antwort Marokkos? Hat die Beziehungen zur EU vorübergehend eingefroren. Und darauf gab es folgende Reaktion der EU, vertreten durch ihre Außenbeauftrage Federica Mogherini: Man werde Widerspruch gegen die Entscheidung des EuGH einlegen. Nach dieser Zusicherung hat Marokko die Kontakte wieder normalisiert.
Die Menschen, mit denen sie in den Flüchtlingslagern gesprochen haben, sagen, dass sie auf keinen Fall unter den Marokkanern leben wollen. Warum sind die Marokkaner bei den Sahraouis so verhasst?
Eine Frage, die wir uns selbst bei über 40 Grad im Schatten immer wieder gestellt haben: Ist es das wirklich wert, ein ganzes Leben in erbärmlichsten Verhältnissen zu verbringen, immer angewiesen auf Hilfe von außen? Die Antwort fällt immer unisono aus: Ein solches Leben sei besser als das unter Besatzung. Natürlich muss man auch sehen, dass die Befreiungsbewegung Polisario das Feindbild Marokko braucht, um die Menschen in den Flüchtlingslagern bei der Stange zu halten. Aber die Frustration wächst. Und sie könnte irgendwann in Wut umschlagen, auch in Wut gegen die eigene Führung, die nach 40 Jahren nicht wirkliche Erfolge vorzuweisen hat.
Marokko hat in den letzten Jahren in die Infrastruktur in ihrem Teil der Westsahara investiert. Die Lebensbedingungen sind sicherlich besser als in den Flüchtlingslagern auf algerischer Seite. Gleichzeitig berichten unabhängige Organisationen (etwa Amnesty International), dass es im marokkanischen Teil der Westsahara immer wieder zu Menschenrechtsverletzungen, Einschränkung der Meinungsfreiheit und auch zu Folter komme. Wir hätten uns gerne selbst ein unabhängiges Bild von der Lage vor Ort verschafft. Aber unsere Anfrage nach einer Drehgenehmigung blieb unbeantwortet.
Das Interview führte Claudia Buckenmaier.
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