Recherche zum IS in Libyen
Die Anarchie in Libyen ist eine Einladung für den IS: Thomas Aders hat mit seinem Team einen ranghohen Terroristen getroffen, der dort in einem Hochsicherheitsgefängnis sitzt. Was das "Weltspiegel"-Team auf seiner Recherchereise erlebt hat.
Von Thomas Aders
Wieder so eine Reise, über die man ein Buch schreiben könnte oder ein wahnsinnig spannendes Kapitel. Wieder dem sogenannten Islamischen Staat auf der Spur, der in Wahrheit unislamisch ist.
Gerade noch waren wir für den "Weltspiegel" in der Stadt Sindschar im Norden des Irak, die die kurdischen Peschmerga gerade von den Extremisten befreit hatten; jetzt sind wir in Libyen. Alles ändert sich in diesem Land, beim letzten Mal im Frühsommer sind wir aus Kairo über Amman geflogen und haben fast 30 Stunden bis Tripolis gebraucht, weil alles und alle verspätet waren. Diesmal – um das zu vermeiden – Hinflug über Istanbul, Dauer vom Büro am Nil ins Hotel in Tripolis: lächerliche 15 Stunden. Wir lernen dazu.
Wir – das sind Cutter und Tonmann Frank Sauer, afghanistangestählter Krisenspezialist in unserem Büro in Kairo, Kameramann Martin Krüger, der uns mit seinen Aufnahmen verwöhnt, auch wenn sie im Nahen Osten meistens furchtbare Inhalte vermitteln und unsere jordanische Producerin und Vollblutjournalistin Alia Hamzeh. Wenn man sie an seiner Seite weiß, kann man davon ausgehen, dass alles gut wird. Wird es auch diesmal, aber buchstäblich erst am Ende.
Das unvermeidbare Warten
In Libyen sein, das heißt vor allem: warten lernen. Wir sind Experten in dieser Disziplin, notgedrungen. Es ist die allerschlimmste Prüfung für jeden Journalisten in Nahost: nicht die Fähigkeit, komplexe Zusammenhänge zu verstehen und zu erklären, nicht die Resistenz gegen Stress, nicht das Aushalten von Gefahr, sondern das unvermeidbare Warten. Gesprächspartner verspäten sich – man wartet in ihren Vorzimmern. Termine platzen – man wartet in Hotellobbys. Flüge verspäten sich – man wartet in der Schlange. Stundenlang kann das gehen, oder – wie jetzt in Libyen – Tage!
Die Nerven zusammenhalten und nicht laut werden, das ist das wichtigste Examen, das jeder für sich ablegen muss, der in der arabischen Welt arbeitet. Die Genehmigung für unseren Flug mit dem Hubschrauber der libyschen Armee kommt – obwohl Alia sie eigentlich schon in der Tasche hatte, bevor wir losgeflogen sind – weder am ersten Tag unseres Aufenthalts, noch am zweiten. Am dritten ändern wir enttäuscht unseren Drehplan und fahren von Tripolis nach Misrata, wo wir in Sachen "Terrorismus" nun ebenfalls nicht vorankommen. Eigentlich warten wir ab jetzt doppelt.
Das gilt auch für den vierten Tag. Während am fünften Tag unsere "IS"-Geschichte deutliche Fortschritte macht, hält man sich in Sachen "Helikopter" weiterhin bedeckt. Am Sonntag, dem sechsten Tag, geht es zurück in die Hauptstadt, denn wir haben die feste und garantierte und bestätigte und schriftlich fixierte Zusage, am siebten Tag endlich starten zu können. Als am Montag-Abend das Dementi kommt, würden wir am liebsten einen anderen Flug nehmen: den nach Kairo – und die ganze Sache vergessen. Doch die Hoffnung stirbt zuletzt, wir buchen um auf Mittwoch und hoffen, dass am Dienstag endlich etwas passiert, jetzt gibt es keinen Plan B mehr.
Adrenalingetränkt fahren wir früh morgens im Auto zum militärischen Teil des Flughafens, angeblich wartet der Hubschrauber bereits, wir hören seine Rotorblätter förmlich knattern. Dann werden wir in das Vorzimmer des Stabschefs der Luftwaffe gebeten, um auf ihn zu warten. Er erscheint – nicht!
Außer sich zu sein und es nicht zu zeigen – das ist die Kunst
Dennoch – unsere Begegnungen bei unseren Dreharbeiten sind außergewöhnlich intensiv. Etwa die Gespräche mit mehreren ehemaligen Einwohnern der Stadt Sirt, die vor den Terrormilizen des IS nun nach Misrata geflohen sind. Was sie berichten aus ihrer Heimatstadt ist haarsträubend, viele wollen unerkannt bleiben, weil sie noch Verwandte unter IS-Kontrolle haben oder – schlicht und einfach Todesangst. Denn der IS – so berichtet uns auch der libysche Generalstaatsanwalt, soll außer den rund 3000 Kämpfern in Sirt überall im Lande Zellen gebildet haben, die Informationen sammeln. Die Sicherheitskräfte jedenfalls rechnen in den nächsten Monaten landesweit mit verstärkten Anschlägen. Libyen ist dabei, zu einem "Ersatzkalifat" zu werden, da es für die Extremisten in Syrien und dem Irak längst nicht mehr so gut läuft wie noch vor einem Jahr.
Geradezu unbegreiflich: dass unser Interview mit einem Terroristen des IS tatsächlich zustande kommt. Wir sind das erste Team überhaupt, dem das gestattet wird. Entweder, weil wir recht gut sind im Warten, oder weil Producerin Alia auf die Dauer niemand gewachsen ist! "Irgendwo in Libyen" findet dieses denkwürdige Gespräch statt, auf diese Formel haben die Behörden und wir uns geeinigt. Niemand darf wissen, wo das Hochsicherheitsgefängnis sich befindet, zu dem wir Zutritt bekommen. Wüssten es die Extremisten aus Sirt, es würde nicht lange dauern, und sie würden versuchen, ihre Mitkämpfer mit Waffengewalt zu befreien. Auch dürfen wie jenen Mann, der gleich zu uns kommt, nicht so zeigen, dass er zu ernennen ist.
Also werden wir sein Gesicht elektronisch verfremden und unkenntlich machen. Auch wenn der IS natürlich weiß, dass "Abu Ismail al-Liby" – so nennen wir ihn einfach einmal – seit drei Monaten verschwunden ist; die Extremisten sollen keine Informationen über ihn erhalten, nicht einmal, ob er noch lebt. Fakt ist: Vor drei Monaten geriet "Abu Ismail" den Sicherheitsbehörden in die Fänge. Er, der lange mit dem selbsternannten "Kalifen" Abu Bakr al-Baghdadi in der IS-Hochburg Rakka zusammen gearbeitet hat, ist ein "Emir": einer der ranghöchsten Mitglieder des Extremistenzirkels. Seine "Abberufung" aus Syrien nach Libyen: ein weiteres Anzeichen dafür, dass der IS auch am Mittelmeer expandieren will.
Schließlich findet Hubschrauberflug am Dienstagnachmittag doch noch statt. Es geht nach Beni Walid, südlich und weitab der Hauptstadt. Kapitän Mohammed el-Dam und seine Kollegen von der Helikopterstaffel sind enorm wichtig für Libyen, weil es einen "Staat" in unserem Sinne beinahe nicht mehr gibt: zwei verfeindete Regierungen (eine international anerkannte im Nordosten und ihre islamistische Gegenregierung im Nordwesten) lassen ihre jeweiligen Armeen gegeneinander antreten. Das Land ist in zwei große Teile auseinandergerissen, und an der anarchischen Bruchstelle in der Mitte hat der IS die Gunst der Stunde genutzt, um in der Stadt Sirt seinen nächsten Brückenkopf zu errichten.
Kapitän Mohammed also fliegt mit seiner MI 171 Medikamente ins Land, jedenfalls in die Gebiete, die von der islamistischen Regierung in Tripolis beherrscht werden. Er holt Examensarbeiten aus den Schulen und bringt später die Zeugnisse, er fliegt Lebensmittel in Krisenregionen, fliegt Ärzte zum Einsatz, holt Verwundete von der Front und heute, als wir dabei sind, bringt er neues Geld. Umgerechnet mehrere Millionen Euro werden in schweren Holzkisten verladen auf zwei Pickups, wir fahren auf einem der Begleitfahrzeuge mit auf der offenen Ladefläche. Kaum gesichert ist der Transport, es ist ein ziemlich merkwürdiges Gefühl, dabei zu sein, besonders in jenen Augenblicken, als der Konvoi im Stau stecken bleibt und ein bequemes Angriffsziel abgeben würde.
Doch alles geht gut, das Geld wird in die Tiefgarage einer Bank gefahren und die Kisten in den begehbaren Stahltresor getragen. Der Bankdirektor zeigt uns die neuen Scheine, stolz ist er an diesem Tag, der Hoffnung für das geschundene Land bedeuten soll. Und dennoch: ohne dass die verfeindeten Regierungen ihren Friedensprozess ernst nehmen und die Kämpfe tatsächlich einstellen, wird das Land bald vollends zerfallen. Die bisherige Anarchie im Lande ist eine Einladung für die Terroristen des IS, die nordafrikanische Mittelmeerküste zu einem ihrer neuen Kriegsschauplätze zu machen. Für Libyen ist es – bildlich gesprochen – fünf vor zwölf.
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