So., 27.03.22 | 19:15 Uhr
Das Erste
Türkei: Russen fliehen nach Istanbul
Noch fühlt es sich an wie ein langer Urlaub. Erst vor drei Wochen sind Julie und Ramil nach Istanbul gekommen. Geflohen aus Moskau, kurz nachdem Russland den Krieg begann. "Ich habe erstmal nur geweint. Wir waren so schockiert von den Nachrichten. Das hat mich einfach erschlagen. Dieses Gefühl, dass nichts mehr sicher ist, keine Stabilität. Ich hab nur noch gedacht, wie sollen wir jetzt nur weitermachen? Ich weiß es nicht", erinnert sich Julie Le Devea.
Hals über Kopf verlassen die beiden damals ihre Heimat – und fliegen aus Moskau nach Istanbul. Vor allem aus Angst, dass sie Russland bald nicht mehr verlassen dürfen. "Das war wie in einem Albtraum. Wir wollten auf keinen Fall in Russland bleiben, eingeschlossen in so einem Land und von allen isoliert. Wir wollen in einer freien Welt leben, wo alle um uns herum Freunde sind und nicht isoliert, wo alle nur Feinde sind", sagt Ramil Aliev.
Hunderte junge Russinen und Russen sind geflohen
Vielen jungen Russinen und Russen geht es ähnlich. Hunderte sind inzwischen nach Istanbul geflohen. Vor allem junge Menschen, gut gebildet und meist wohlhabend – Designer, Programmierer, Journalisten oder Kreative. Menschen, die in Russland keine Zukunft mehr sehen. In Istanbul leben sie von ihrem Ersparten oder arbeiten aus dem Home-Office – wie Julie und Ramil. Er ist Programmierer, sie im Online-Marketing. Beide können ihre Jobs in der kleinen Ferienwohnung machen, die nun ihr neues zu Hause ist. "Wir kennen inzwischen sehr viele Russen hier. Wir treffen immer wieder welche auf der Straße und dann helfen wir uns gegenseitig, zum Beispiel mit Behörden oder bei der Bank. Das geht inzwischen alles über Chats und Telegram. Da haben wir schon einen gemeinsamen Chat von Russen hier", erzählt Julie Le Devea.
Probleme im Alltag gibt es für die Russen immer wieder, vor allem beim Geld. Durch den SWIFT-Ausschluss der russischen Banken funktionieren die Kreditkarten hier nicht mehr. "Visa und Mastercard mit den russischen Karten gehen einfach nicht mehr. Als das entschieden wurde, bin ich morgens schnell zum Geldautomaten gerannt. Da ging es noch ganz kurz. Ich habe so viel abgehoben wie ich konnte. Und von diesem Geld leben wir jetzt", sagt Ramil Aliev.
Auf keinen Fall zurück nach Russland
Wie viele Russen inzwischen in die Türkei geflohen sind, zeigt sich vor einigen Tagen. Der russische Rapper Oxxxymiron gibt ein Konzert in Istanbul – und setzt damit ein Zeichen gegen den Krieg. "Es gibt Millionen Russen, die diesen Krieg kategorisch ablehnen. Und das sollte man so laut wie möglich sagen", kündigt er über Instagram an. Viele Russen kommen gar nicht wegen der Musik, sondern um gegen den Krieg zu demonstrieren. Hier können sie ihre Meinung noch frei äußern. "Ich höre Oxxxymiron gar nicht so oft, ist nicht meine Musik. Aber seine Aussage hier ist echt wichtig", sagt Evgeny. Flipp Chekhunov ergänzt: "Viele Promis aus Russland trauen sich gar nicht, solche Statements gegen den Krieg zu machen. Das ist echt cool von Oxxxymiron. Und dann gehen die Einnahmen von seinem Konzert auch noch in die Ukraine. Das macht es noch besser."
Das Rap-Konzert gegen den Krieg haben sich auch Julie und Ramil angeschaut. Für sie ist klar: Die Russen in Istanbul halten zusammen. Denn wie es weitergeht, das weiß hier eigentlich niemand. In einigen Wochen müssen viele die Türkei wieder verlassen. Die Aufenthaltsgenehmigungen laufen dann ab. Wohin Julie und Ramil dann gehen, wissen sie noch nicht. Nur zurück nach Russland wollen sie auf keinen Fall.
Autor: Jannik Pentz
Stand: 27.03.2022 21:32 Uhr
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