Mo., 03.10.16 | 04:50 Uhr
Das Erste
Ukraine: Schneidern für den Krieg
Die beiden Schwestern Lila und Julia sind spät dran. Ihre Freundinnen warten schon im Keller. Neue Stoffreste sind angekommen. "Es lebe die Ukraine". Ein Gruß – den man im ganzen Land hört. Fast jeden Abend treffen sie sich hier. Manchmal weben und nähen die Frauen bis in die späte Nacht. Die nächsten Tarnanzüge müssen so schnell wie möglich raus.
Längst kein gemütliches Häkelkränzchen mehr
Lila und Olga sind im wahren Leben Buchhalterinnen. Andere arbeiten als Ärztinnen, Lehrerinnen oder in der Bank. Nach der Arbeit kommen sie her – seit Julia und Lila vor zwei Jahren die Gruppe per Facebook ins Leben riefen. So tauschen sie sich aus über die Kinder, den Job, aber auch über den Krieg und die Wirtschaftskrise im Land. Längst ist dies mehr als ein gemütliches Häkelkränzchen.
"Wir kennen uns alle seit dem Maidan. Und als der Krieg im Osten anfing hieß es, bleibt zu Hause. Aber es fiel uns damals unglaublich schwer Nachrichten über den Krieg zu gucken. Irgendwann hielten wir es einfach nicht mehr aus. Also überlegten wir, was wir tun könnten. Da wir Frauen nicht bereit waren, an der Front zu kämpfen, dachten wir über andere Möglichkeiten nach", erzählt Julia Polyanska.
Indem sie stark sind – stärken sie die Männer draußen
Um einen aktiven Beitrag zu leisten und nicht mehr länger passiv zuzuschauen. Dann kommt ihnen dabei der Zufall zur Hilfe, erinnert sich Lila Samoylenko. "Eine Freundin war mit ihrem Hund unterwegs und zeigte mir ein Video mit Männern, die in solchen Tarnanzügen auf dem Boden lagen und die Kugeln flogen an ihnen vorbei." Und so begannen sie Tarnumhänge herzustellen aus Fischernetzen, Kartoffelsäcken, Wollresten und Lumpen – für die Männer an der Front. Für die Namen griffen sie zur slawischen Mythologie. "Wir nennen diese Umhänge Kikimora. Ja, Kikimora. Ein ukrainisches, slawisches Fabelwesen", erklärt Julia.
Eine Hexe, die unsichtbar im Wald lebt, die Menschen das Fürchten lehrt und mit ihren Zauberkräften vertreibt. Vielleicht helfe das ja den Männern, denn die Russen kennen dieses Fabelwesen auch. Indem wir stark sind – stärken wir die Männer da draußen. So haben sich tausende Ukrainerinnen im ganzen Land engagiert. 80% der Freiwilligen sind Frauen. Und sie wissen, dass die Männer an der Front ohne ihre Hilfe nicht klar kämen.
Ohne sie läuft nichts in der Ukraine, meint Valeri, ein Freiwilliger Kämpfer auf Heimaturlaub. Wir hatten das noch nie vorher gemacht. Wir mussten das erst lernen. Aber sie sehen ja hier geben die Frauen die Befehle, meint er. Und sie spannen ihn halt gern ein. "Sie haben uns immer unterstützt. Und jetzt brauchen wir wieder Netze. Da muss ich doch helfen", sagt der Soldat. Da die Gewalt an der Front seit dem Sommer immer wieder eskaliert, verschickt das "Kiewer Tarnungsbataillon", wie sich die Frauen selbst nennen, wieder häufiger Netze, oft mit persönlichen Grüßen oder Gedichten versehen.
Ohne diese Tarnanzüge werden sie schnell zur Zielscheibe
Am nächsten Morgen ist Valeri schon an der Front. Er ist die Nacht durchgefahren. 700 km quer durchs Land. Die Kameraden brauchen die Netze sofort. Ihr Kommandant ist angeschossen worden. Seit Tagen werden sie wieder angegriffen. Ohne diese Tarnanzüge werden sie schnell zur Zielscheibe. "Die Netze funktionieren hervorragend. In 10-20 Meter Entfernung decken sie wirklich gut. Aber in einem Monat wird hier alles herbstlich gelb sein. Dann brauchen wir wieder andere Netze. Wir müssen sie ständig wechseln. Wir brauchen ständig neue Farben", informiert Valeri.
Um Sniper aufzustellen, die die Vorstöße der Separatisten abwehren, erklären sie uns. Der pro-russischen Seite ginge es um Landgewinne in kleinen Schritten, klagen sie. Seit Beginn der Waffenruhe 2014, hätten die Separatisten ihr Territorium um 5000 Quadratkilometer ausgeweitet. Etwa die Größe des Saarlands. "Jeden Tag werden wir angegriffen. Jeden Tag versucht der Feind unsere Linie zu durchbrechen. Nicht irgendwelche Einzelkämpfer, sondern ganze Einheiten. Der Krieg geht einfach immer weiter. Einen richtigen Waffenstillstand gab es nie – nur auf dem Papier. Und wir dürfen nicht zurückschießen", beklagt Valeri.
Skeptische Einstellung zu den neuen Friedensvereinbarungen von Minsk
Und so bleiben sie ständig auf der Hut. Es gebe zwar ruhigere Phasen – doch die würden meistens von Blutigeren abgelöst, sagen die Soldaten. Auch die neuen Friedensvereinbarungen von Minsk sehen sie skeptisch. "Wir müssen uns in einer von drei Zonen zurückziehen, nach den neuen Bestimmungen. Aber gleichzeitig wird der Waffenstillstand an anderen Stellungen gebrochen – selbst tagsüber", erzählt der Soldat Konstatin.
In Kiew gucken die Frauen des Tarnungsbataillons nur noch selten Fernsehen, denn die meisten Abende verbringen sie in der Werkstatt. Der Krieg sei längst zum Dauerzustand geworden, der sie nie zur Ruhe kommen lasse, meinen sie. Gewöhnen könne man sich daran nie. "Eigentlich müsste dieser Konflikt diplomatisch gelöst werden. Aber wir müssen immer mit einer weiteren Eskalation rechnen und bereit sein, die Zähne zu zeigen und die Unabhängigkeit unseres Landes mit militärischen Mitteln zu verteidigen", sagt Julia.
Am nächsten Tag sind sie wieder im modrigen Keller und stellen neue Netze her – dieses Mal in gedeckten Wintertönen. An den Frieden glauben sie nicht.
Autorin: Birgit Virnich/ARD Studio Moskau
Stand: 12.07.2019 21:59 Uhr
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