So., 03.03.19 | 19:20 Uhr
Das Erste
USA: New Yorks obdachlose Kinder
Von der Notunterkunft in die Schule
105.000 Kinder, so die offizielle Statistik, sind in New York obdachlos. Und die Zahl der obdachlosen Familien steigt weiter, denn wer einmal aus einer bezahlbaren Wohnung geflogen ist, hat kaum mehr eine Chance eine neue zu finden. Und so beginnt eine jahrelange Odyssee durch die Notunterkünfte.
Selten sind die Notquartiere in dem Viertel, in dem die Kinder zur Schule gehen. Stefanie Dodt hat drei Kinder auf ihrem Schulweg begleitet, einmal durch ganz New York, drei Stunden jeden Tag.
Stefanie Dodt, ARD New York
Die Brooklyn Bridge, dahinter die Spitze von Manhattan. Das Bilderbuch New York, das Tamara, Watson und Danley jeden Morgen sehen, wenn Vater Robert sie zur Schule bringt. Sehen könnten. Meist sind viel zu erschöpft. Seit zwei Stunden fährt die Familie U-Bahn. Vom Obdachlosenwohnheim zur Schule. "Mir tut das unheimlich weh", klagt Robert. "Ich denke jeden Tag darüber nach, was das wohl mit den Kindern macht. Sie sind ja viel zu klein, um das alles zu verstehen."
Vor zwei Monaten hat die Familie ihre Wohnung verloren. Eine bezahlbare Alternative ist einfach nicht in Sicht. Und die Obdachlosenwohnheime sind überfüllt. Der alleinerziehende Vater und die Kinder bekommen die nächsten freien Betten. 30 Kilometer von der Schule entfernt. Das ist typisch New York. Die Chancen auf eine Unterbringung nahe der Schule stehen 50 zu 50. "Wir wohnen hier, in der Bronx. Und schaut mal, wir fahren diesen ganzen Weg bis nach Brooklyn. Dann laufen wir den Rest zur Schule."
New York – Metropole der Ungleichheit
Die letzten Meter auf dem Schulweg – die Kinder sind übermüdet und hungrig. "Der Weg ist weit und manchmal kommen wir zu spät. Dann verpassen wir das Frühstück.” New York – berühmt für die 5th Avenue, das Empire State Building. Doch in denselben Straßen liegt auch eine andere Realität versteckt. Eine Stadt mit zwei Gesichtern, eine Metropole der Ungleichheit. Ein Fünftel der New Yorker gilt als arm, 105.000 Schulkinder sind obdachlos.
Wenn Robert die Kinder zur Schule gebracht hat geht es direkt weiter zur Arbeit. Obdachlos trotz Vollzeitjob. Er nimmt uns mit – in seine Schicht als Wachmann in einem anderen Obdachlosenwohnheim. Hier sieht es fast so aus wie im Gefängnis, sagt er. "Es ist echt verrückt. Du arbeitest jeden Tag – und kannst dir trotzdem keine Wohnung leisten."
Die teuerste Wohnung der USA ist ein Penthouse über 3 Stockwerke, mit Blick auf den Central Park. Gerade hat sie ein Hedgefonds-Manager gekauft, für 238 Millionen Dollar. New Yorker zahlen im Schnitt für eine Ein-Zimmer-Wohnung 2.750 Dollar. Es geht schnell, hier obdachlos zu werden. Das ist auch dem Bürgermeister, seit 2014 im Amt, langsam bewusst geworden. "Offen gesagt: Wir haben drei Jahre gebraucht, um die unangenehmen Wahrheiten zu verstehen" sagte Bürgermeister Bill de Blasio im Februar 2017." Seit der großen Rezession erleben wir eine andere Art von Obdachlosigkeit: Arbeitende Menschen werden obdachlos, Familien landen zu Rekordzahlen in Notunterkünften. Das hier ist ein Versprechen, das Blatt zu wenden."
Keine Besucher und keine Spielsachen in der Notunterkunft
Doch Ergebnisse dieser Wende lassen noch auf sich warten. "Leider nimmt Obdachlosigkeit in New York weiter zu", sagt Josef Kannegaard, vom Institut für Kinder, Armut und Obdachlosigkeit (ICPH). "Seit dem Schuljahr 2010 sind die Zahlen obdachloser Schüler um 56 % angestiegen. Es ist so ein vielschichtiges Problem, es braucht mehr von allem." Das Rechercheinstitut sammelt Daten der Stadt, um Kinder-Obdachlosigkeit und ihre Folgen zu analysieren. "Etwa die Hälfte obdachloser Schüler der Oberstufe in New York gibt an, an Depressionen zu leiden. Ein Drittel gibt an, schon mal einen Suizidversuch unternommen zu haben."
Zurück in Brooklyn, ein kurzer Abstecher nach der Schule. Tamara, Watson und Danley spielen, ein eigenes Baumhaus zu haben. Ein Haus für jeden, mit eigener Türklingel. Ein Zuhause, in dem sie Freunde empfangen können. Die Realität ist anders. Besucher in der Notunterkunft sind verboten. "Wir können keine Freunde mitbringen, und außerdem sind die alle in Brooklyn", klagt Tamara. "Man kann uns nicht besuchen kommen, dafür muss man auf der Liste im Haus stehen."
Wir dürfen das Wohnheim auch nicht betreten – aber Robert gibt uns einen Einblick. Für Familien gibt es mehr Platz als für Alleinstehende. Aber alles das, was ein Dach über dem Kopf zum Zuhause macht, ist nicht erlaubt. Persönliche Gegenstände, Möbel und Spielzeug – das meiste liegt nun in einem Lagerraum der Stadt. Das Heim ist eigentlich nur die Übergangslösung.
"Wir sind da drin nur noch eine Nummer"
Eine Abteilung der Stadt New York ist dazu da, zu helfen. Eine Art Annahmestelle für obdachlose Familien. Die Stadt verteilt sie von hier auf die Heime – und vermittelt Sozialwohnungen. Darauf warten Robert und die Kinder. Denn es gibt Eignungskriterien für dauerhafte Bleiben, Robert ist bisher durchgefallen. "Wenn du obdachlos wirst, kommst du hier her", sagt Robert. "Aber dann must du beweisen, dass du obdachlos bist. Wenn du das nicht beweisen kannst, erklären sie dich für nicht berechtigt."
Er muss seine Wohnorte der letzten zwei Jahre nachweisen – mit Zeugen. Wer zu wenige Belege bringt, muss alle 10 Tage wiederkommen – die Kinder im Schlepptau. Das kann Jahre so gehen, erzählen andere wartende Familien. "Dort drin müssen sie immer unser Gesicht sehen, damit wir untergebracht werden", sagt Vanessa. Ihre Mutter Elizabeth meint: "Seit 2017 sind wir schon in verschiedenen Wohnheimen." "Ich bin unheimlich enttäuscht", klagt Vanessa. "Ich verpasse viel Schule und schaffe wahrscheinlich meinen Abschluss nicht."
Nur etwa die Hälfte der obdachlosen Schüler schafft den Abschluss ohne Verzögerung. Am Ort der Hilfe fühlen sich viele unsichtbar. "Wir sind da drin nur noch eine Nummer", sagt Althea. "Noch ein Gesicht. Die Obdachlosigkeit ist überall. Hier in New York, in einer so reichen Stadt. Wir sind hier unerwünscht, wir sind der Bodensatz." Doch die Stadt glaubt an ihr Konzept. Man habe Fortschritte gemacht, sagt uns eine Sprecherin, da die Zahl von Familien in Notunterkünften zuletzt minimal zurückging.
Meldestelle statt Schule, U-Bahn statt Freunde treffen, sechs Stunden jeden Tag. Durch die Rushhour fährt die Familie zurück in die Bronx, ins Obdachlosenwohnheim. Völlig erschöpft. Roberts größter Wunsch: Die eigenen vier Wände – damit die Kinder wieder mir ihrem eigenen Spielzeug spielen können und die Odysseen bald vorbei sind.
Stand: 04.03.2019 11:58 Uhr
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