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Mauritius: Die Vertriebenen von Diego Garcia

Mauritius: Die Vertriebenen von Diego Garcia | Bild: NDR

Das Chagos-Archipel mitten im Indischen Ozean gehörte über viele Generationen zu Mauritius, als Teil der britischen Kolonie. Im Zuge der Unabhängigkeit erklärten die Briten das Archipel zu einem Übersee-Territorium, alle Einwohner mussten die Inseln verlassen, sie wurden vertrieben. Dann wurden das Chagos-Archipel von den Briten an die USA vermietet. Das US-Militär errichtete die Basis Diego Garcia – und seitdem ist dieser Stützpunkt einer der wichtigsten Bausteine der weltweiten Militärpräsenz.

Britische Regierung macht aus Insulanern Vertriebene

Der letzte Akt des Dramas beginnt am 27. April 1973 – als ein Schiff die noch verbliebenen Bewohner des Chagos-Archipels aus ihrem Paradies abtransportiert. Die britische Regierung macht aus Insulanern Vertriebene – Deportierte, wie Rosemunde Bertin. "Uns wurde gesagt: Das Schiff ist jetzt da. Die haben dann unsere Leute weggebracht. Sie haben nichts gesagt, es gab keine Zeit, Sachen zu packen. Wir haben dann nur eine Matratze und einen Koffer dabei gehabt. Als wir in Mauritius ankamen, schliefen wir mit elf Familienmitgliedern in einem Raum auf dem Boden. Nach drei Tagen sagte meine Großmutter: Ihr müsst nach einem Haus suchen. Da baute meine Mutter eines aus Kuhdung."

Die Schrecken der Vergangenheit und der Traum von einem Neubeginn auf Chagos: Rosemonde lebt bis heute zwischen zwei Welten, in ihrem Haus auf Mauritius. Die Wände ihrer Zimmer zeigen die Inselwelt, die Erinnerungen dazu sprudeln aus ihr heraus. Auf dem Tisch: Souvenirs. "Diese Muschel gibt es auch auf Chagos. Ich habe sie aber von den Seychellen. Als sie uns damals so brutal wegbrachten, konnten wir ja nichts mitnehmen. Als ich die Muschel dann sah, habe ich sie mitgenommen. Sie ist wie die, die meine Mutter hatte, vor vielen Jahren."

Geostrategischer Schachzug Großbritanniens und der USA

Viele der Deportierten landen in diesem Teil von Port Louis auf Mauritius – die Einheimischen ziehen weg aus "cite ileous" – der Stadt der Insulaner. So nennen die Mauritier die Menschen von Chagos. Wer hier wohnt, lebt mit dem Stigma, arm zu sein — und fremd, mit einer eigenen Flagge und sogar eine Art Nationalhymne, die von der Vertreibung aus dem Paradies erzählt. Ein kleine Gruppe von Vertriebenen darf die Heimat nach vielen Jahren besuchen. Ein Gefühl von Glück – aber auch Trauer um den Verlust. Solche Besuchsgenehmigungen gab es kaum – den britischen Behörden galten die ehemaligen Bewohner als "Sicherheitsrisiko" sie könnten ja zurück wollen.

Alles als Preis für einen geostrategischen Schachzug Großbritanniens und der USA. Seltene Aufnahmen des militärischen Sperrgebietes: Eine Basis für die Marine, ein Flughafen mitten im Indischen Ozean. Afghanistan und Irak sind In Reichweite der B-52-Langstreckenbomber. Von hier überwacht die US-Marine globale Handelsrouten – und hat ein Auge auf den wachsenden chinesischen Einfluß in der Region. Diego Garcia, die Hauptinsel des Chagos Archipels, ist eine Festung des US-Streitkräfte.  

Sehnsuchtsort Chagos

Palmen und Sandstrand
Das Chagos-Archipel wurde von den Briten an die USA vermietet.  | Bild: NDR

Wir treffen Frankie Bontemps in Crowley, südlich von London. Er gehört zu den mehr als 1.000 Bewohnern der Region, die chagossischer Abstammung sind. Clubbetreuerin Mylene schneidet die Geburtstagstorte für ihre Tante an, dann spielen sie Bingo, wie jeden Mittwoch. Ablenkung für die Älteren. Hier können sie Kreolisch sprechen und den Alltag in einem Land vergessen, in dem sie sich oft als Fremde fühlen. Die meisten haben enge Verwandte auf Mauritius, fast 10.000 Kilometer entfernt. Soweit wie Chagos, ihrem Sehnsuchtsort: "Wenn ich nach Chagos gehen könnte, dann hätte ich ein freies, stressloses Leben auf dem Stück Land, auf dem meine Mutter und meine Großmutter geboren wurden. Wie kann die britische Regierung heute sagen, dass sie die Chagossier nicht als indigenes Volk anerkennt? Weil sie wissen, dass wir dann ein Recht auf unser Land haben", sagt Frankie Bontemps.

Regelmäßig spricht Frankie mit seiner Mutter und den Verwandten auf Mauritius – per Video-Call. Marie Suzettes Familie erlebte die erste Phase der Vertreibung durch die Briten: "Wir haben hier monatelang unter erbärmlichen Bedingungen gelebt und wollten zurück nach Chagos. Aber es hieß, dafür gäbe es keine Erlaubnis und die Inseln seien verkauft. Das war in den 1960er-Jahren. Wir mussten hier bleiben. Als mein Vater dann starb, sagte meine Mutter, am liebsten würde sie zurückgehen und die Kinder dort großziehen. Das war aber nicht möglich. Meine Mutter starb, dann meine jüngere Schwester. Sie war traurig. Sie wollte zurück."

Ihre Tochter Madeline sagt uns, sie könne sich ein Leben auf Chagos gut vorstellen. Bei Enkelin Cloé ist das schon anderes: Sie bemüht sich um die britische Staatsbürgerschaft für ein Studium – eine Ausbildung im Land der Kolonisatoren: "Es ist sehr widersprüchlich. Aber es ist nun mal eine Gelegenheit, die man ergreifen muss. Es kann nicht vergessen machen, was sie getan haben, aber es ist eine kleine Wiedergutmachung."

Kampf für Wiedergutmachung vor der UN

Frankie will richtige Wiedergutmachung, deswegen ist er in New York bei der UN. Die Vertriebenen von Chagos sollen als indigene Gruppe anerkannt werden, dafür kämpft er. Nur dann habe man ein Recht auf staatliche Unabhängigkeit und könne zurückkehren, glaubt er. "Es muss Gerechtigkeit geben. Ich weiß nicht, ob wir das in der nächsten Generation schaffen, aber wir geben nicht auf. Sonst passiert nichts."

Im Sitzungssaal gibt es dann eine Anhörung von indigenen Gruppen aus aller Welt. Minderheiten die ihre Rechte suchen, gegen mächtige Nationalstaaten. Jede Gruppe darf Leid und Unterdrückung schildern – solange drei Minuten reichen: "Wir sind keine Mauritier. Unsere Insel liegt mehr als 1.000 Meilen entfernt von Mauritius. Einzigartig sind unsere Kultur, unsere Lebensart und unsere Bindungen zu unserem Land und Meer. Wir sind Kreolen. Deshalb ist es beschämend."

Chagos-Archipel soll Mauritius zugesprochen werden

Eine ältere Frau schaut in die Kamera.
Rosemunde Bertin hofft noch immer auf eine Rückkehr. | Bild: NDR

Was er nicht akzeptieren will: Die UN haben sich schon festgelegt: Das Chagos-Archipel soll Mauritius zugesprochen werden. Denn inzwischen scheinen sich die Regierungen in Großbritannien und Mauritius in wichtigen Punkten einig. Für Mauritius hat der britische Völkerrechtler Philippe Sands erfolgreich gekämpft. Er sagt: Das Rückkehrrecht könnte kommen – ein Selbstbestimmungsrecht gebe es aber nur in den Grenzen der alten Kolonie: Und in der waren das Chagos-Archipel und Mauritius noch eins: "Es mag eine Gruppe von Chagossiern geben, die sagen: wir wollen nicht zu Mauritius, sondern unabhängig werden. Und ich verstehe, warum sie das womöglich so sehen. Aber nach Internationalem Recht geht das eben nicht. Außer Mauritius sagt, wir machen ein Referendum und lassen Euch abstimmen. Das ist so wie mit Schottland und Katalonien."

Mauritius hofft auf Einnahmen durch Tourismus und Plantagen – und auf hohe Pachtgebühren von den USA für die Militärbasis. Die Chagossier verbindet die Forderung nach Reparationen durch Großbritannien und eine Rückkehr in ihre Heimat.

Rosemonde Bertin zeigt Sand von Chagos in aus einer Flasche. "Mein Herz schmerzt, wenn ich den Sand sehe. Wenn ich nicht nach Chagos zurück kann und sterbe, dann soll das auf meinem Grab verteilt werden. Gott wird mich eines Tages dorthin bringen. Ich werde sicher gehen. Gott wird die Insel zurückgeben, zu uns und zu mir. Und ich werde sie in meine offenen Armen nehmen. Ich werde sagen: 'Ich bin zurück!'" Und weil Rosemonde daran glaubt, kommt der Sand erstmal wieder zurück in die Flasche. Mit 17 musste Rosamonde ihre Heimat verlassen, nach 50 Jahren in der Fremde hat sie neue Hoffnung, zurückkehren zu können.

Autor: Norbert Hahn, ARD-Studio Nairobi

Stand: 11.06.2023 19:14 Uhr

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