So., 16.07.23 | 19:00 Uhr
Das Erste
Ukraine: Ist der russische Angriffskrieg ein Genozid?
Besetzt, befreit, beschossen: Kupjansk, im Osten der Ukraine, liegt wenige Kilometer von der Front entfernt. Vor fast eineinhalb Jahren marschieren hier russische Soldaten ein und übernehmen die Kontrolle - bis Herbst 2022. Auch über die Schulen. Seit ukrainische Soldaten die Kleinstadt nach einem halben Jahr Besatzung befreit haben, ist Oleksandr Pischyk Direktor am Gymnasium Nr. 2. Er zeigt uns Spuren, die erahnen lassen, was russische Soldaten hier vorhatten: Die Säuberung der Schule von ukrainischer Sprache, Geschichte und Kultur: "Da steht es: 2022. Das sind also frische Lehrbücher, die gerade erst gedruckt wurden. Speziell für die Einführung der russischen Standards in den besetzten Gebieten."
"Ukrainern wird das Recht auf Selbstbestimmung genommen"
In der Zeit der Besatzung war der Geschichtslehrer arbeitslos – weil er sich geweigert hat, nach russischem Lehrplan zu unterrichten. Heute versuchen die russischen Soldaten Kupjansk zu zerstören, mit Artillerie und Raketen, auch das Schulgebäude. Oleksandr leitet eine Schule ohne Schüler. Er arbeitet die Zeit der Besatzung auf. Er sammelt Belege, um alles zu dokumentieren. Zum Beispiel Zeugnisse – das ukrainische Wappen wurde einfach durch das russische Staatswappen ersetzt. "Es zieht sich ein roter Faden durch, dass die Ukraine als solche nicht existiert, nicht existiert hat und nicht existieren sollte. Hier, in diesen Lehrbüchern, wird gesagt, dass es kein ukrainisches Volk gibt, sondern nur ein gemeinsames russisches Volk. Den Ukrainern wird das Recht auf Selbstbestimmung, auf ihre Geschichte, auf ihre Kultur und auf ihre Sprache komplett genommen."
Auf dieser Grundlage erhebt Schulleiter Oleksandr einen massiven Vorwurf, der in der Ukraine immer wieder zu hören ist: "Ist Mord normal? Ist die Zerstörung von Kultur normal? Ist die Zerstörung von Bildung normal? Wie man das nennt? Das nennt man Genozid."
Genozid - juristisch gekennzeichnet durch die gezielte Absicht, eine Gruppe - national, ethnisch oder religiös - ganz oder teilweise zu zerstören. Das zu belegen ist aufwendig. Die Aggression und Kriegsführung Russlands gegen Zivilisten sehen viele in der Ukraine als Mittel zu einem übergeordneten Zweck: Der Ausbreitung der “Russki Mir”, der russischen Welt, als Einflusssphäre.
Russland spricht Ukraine Existenz ab
Russland spricht der Ukraine - entgegen aller Fakten - die Existenz ab und versucht das mithilfe der staatlichen Propaganda zu belegen. So sagt Wladimir Putin, Präsident Russlands: "Die sowjetische Führung hat die sowjetische Ukraine erschaffen. Vorher gab es in der Menschheitsgeschichte keine Ukraine." Die Ukraine als Staat, ihre Landesgrenzen, Identität und Geschichte – das alles stellt Russlands Präsident Putin in Frage und propagiert die Einheit alles "Russischem". In den Staatsmedien werden atomare Schläge herbeigesehnt, Angriffe auf Zivilisten und Politiker gefordert. Der Ton ist hasserfüllt und aggressiv. Der russische Moderator Anton Krassowski rief sogar dazu auf, ukrainische Kinder zu töten: "Man sollte solche Kinder direkt im Fluss ertränken. Diese Kinder gehören ertränkt. Sobald einer sagt: ‚Die Russen haben uns besetzt‘, wirft man ihn sofort in den Fluss. In eine heftige, reißende Strömung."
In Kupjansk empfinden sie bei diesen Worten Wut. Bis zum Frühjahr gab es im Ort ein Heimatmuseum. Dann flog eine russische Rakete in die zivile Kultureinrichtung. An diesem Tag hat Iryna Korystina hier gearbeitet. Heute leitet sie übergangsweise das Museum – weil ihre Chefin bei dem Angriff getötet wurde. Ein mutmaßliches Kriegsverbrechen. "Ich stand hier bis zum letzten Moment. Bis unsere Direktorin rausgeholt wurde. Wir haben drei, vier Stunden gewartet. Bis zum letzten Moment habe ich ausgeharrt. Es ist schrecklich. Ich bin um 8.40 Uhr gekommen, um sie zu begrüßen. Und um 9.05 Uhr gab es sie nicht mehr. Ich kann es immer noch nicht fassen: Da war ein Mensch, und jetzt gibt es ihn nicht mehr."
Genozid: juristischer Nachweis komplex
Iryna wurde im russischen Belgorod geboren, ganz in der Nähe. Sie spricht Russisch, hat Familie in Russland. Seit Beginn des Angriffskriegs wurden in der Ukraine mehr als 1.500 Kultureinrichtungen zerstört, viele weitere geplündert. "Wir glauben, dass es gezielt ist. Sie vernichten unsere Kultur, sie vernichten unser Volk", sagt Iryna.
In Kupjansk und anderen ukrainischen Städten sind sie von der russischen Absicht, die ukrainische Kultur auszulöschen, überzeugt. Doch der juristische Nachweis ist komplex: Völkermord gilt als "Verbrechen aller Verbrechen". Mykola Komarovskyj von der Ukrainischen Helsinki-Gruppe hat es sich zur Aufgabe gemacht, die Täter zur Rechenschaft zu ziehen. Er ist Teil einer Menschenrechtsorganisation, die russische Kriegsverbrechen dokumentiert. Sie sammeln auch Belege für den Straftatbestand Genozid. "Wir können sagen, dass bestimmte Handlungen der Russischen Föderation Anzeichen eines Völkermordes aufweisen. Wenn wir uns die Ereignisse in Butscha ansehen und uns an all diese schrecklichen Ereignisse erinnern, bei denen Menschen getötet wurden, nur weil sie Ukrainer waren. Ein anderes Beispiel sind die Stromausfälle im Winter, bei denen auch viele Kinder im Dunkeln saßen. Es geht also auch um die Schaffung bestimmter Bedingungen, die die Entwicklung einer bestimmten Gruppe und ihr Überleben behindern."
Raketenangriffe auf Wohnhäuser, Folter, ermordete Zivilisten in Massengräbern – das sind nur einige Beispiele der russischen Gräueltaten im Angriffskrieg gegen die Ukraine. Doch der Genozid-Vorwurf wiegt schwer. Und deswegen ist auch der juristische Nachweis des Völkermordes so schwierig, erklärt Völkerrechtlerin Prof. Dr. Paulina Starski von der Universität Freiburg: "Viel des Grauens, was wir in der Ukraine sehen, kann bereits geahndet werden, basierend auf den anderen Tatbeständen als Kriegsverbrechen, als Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Und die Hürden, dies nachzuweisen, sind geringer, als bei diesem sehr schwerwiegenden Delikt des Völkermordes. Dieses Verbrechen aller Verbrechen, das diese sehr hohe Anforderung an eine genozidale Absicht beinhaltet."
Mehrere Länder haben russisches Vorgehen als "Völkermord" eingestuft
Mehrere Parlamente, unter anderem in der Ukraine, Litauen, Kanada und Irland, haben das russische Vorgehen als "Völkermord" eingestuft. Der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag hat wegen mutmaßlicher Kriegsverbrechen in der Ukraine Haftbefehl gegen Wladimir Putin erlassen. Putin sei mutmaßlich verantwortlich für die Deportation ukrainischer Kinder aus besetzten Gebieten nach Russland. "Wenn wir uns das anschauen, mehren sich in der Tat Indizien, die es als legitim erscheinen lassen, den Völkermord-Vorwurf näher zu untersuchen. Wenn wir beispielsweise anknüpfen an die Deportation von Kindern, also die Überführung von Kindern aus einer Gruppe, in eine andere. Das ist in der Tat eine objektive Tathandlung des Völkermordes", sagt Starski.
Ein investigatives Team der EU-Justiz-Agentur "Eurojust" geht dem Genozid-Vorwurf nach. Juristen rechnen mit einem langwierigen und aufwendigen Prozess. In Kupjansk müssen die Menschen mit dem Trauma der russischen Besatzung und ständigem Beschuss leben. Sie wollen, dass die Verantwortlichen für ihre Verbrechen so schnell wie möglich zur Rechenschaft gezogen werden.
Autor:innen: Vassili Golod und Kateryna Rusetska, ARD Studio Kyiv
Stand: 16.07.2023 20:34 Uhr
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