Mo., 07.05.18 | 04:40 Uhr
Das Erste
Chile: Bitteres Erbe der Colonia Dignidad
Es muss schnell gehen, bevor der nächste Regen kommt: Sieben Tage die Woche schuftet Harald Lindemann in Los Lagos in Südchile auf seinem Kartoffelacker: Erntezeit. Früher lebte der 59-Jährige jahrzehntelang in der Sekte Colonia Dignidad. Er war dort von klein auf ein Arbeitssklave: "Mit sechs Jahren fingen wir an, auf dem Acker zu arbeiten, haben wir Ähren nachgesammelt, Steine gesammelt, Wurzeln eingesammelt. Morgens im Frost raus. Wir Kinder haben viel geweint, weil die Hände weh getan haben. Wir waren blau gefroren, die Füße."
Heute ist Harald Lindemanns Körper kaputt – nach 35 Jahren Sklavenarbeit. Trotz Schmerzen muss er immer weiter arbeiten. Er ist angewiesen auf den mickrigen Gewinn der Kartoffelernte. In der Colonia Dignidad war Harald Lindemann jahrzehntelang eingesperrt, ohne Lohn und wurde missbraucht vom pädophilen Sektenführer Paul Schäfer. Die seelischen Narben sind noch immer nicht verheilt. Dazu kommt die Gewissheit, dass der deutsche Staat vom Grauen in der Sekte wusste – und nichts tat: "Die Deutsche Botschaft hat sich nachweislich 20 Jahre lang bestechen lassen. Die haben Paul Schäfer unterstützt. Die haben nicht nur weggeschaut. Die wussten, dass wir als Kinder dort Sklavenarbeit machen, dass wir Kinderarbeit machen, dass wir von Paul Schäfer missbraucht wurden. Das war alles bekannt."
Doch vom deutschen Staat kam bis heute keinerlei Hilfe für Harald und seine Frau Astrid. Auch sie war Sklavin der Sekte und muss jetzt mit Ihrem Mann jeden Peso zwei Mal umdrehen.
Viele Verbrechen in der Colonia Dignidad
Tags darauf: Fahrt in die ehemalige deutsche Sekte Colonia Dignidad, die so genannte Kolonie der Würde. Wir dürfen den Bundesrichter Mario Carroza bei seinen Ermittlungen begleiten. Nach dem Tod des Sektenführers Paul Schäfer wurden viele Verbrechen, die hier passiert sind, nie aufgeklärt. Zum Beispiel in dieser Scheune: Neue Zeugenaussagen könnten die Ermittlungen von Richter Carroza jetzt voranbringen. Er will beweisen, dass unter dieser Betonplatte ein Geheimgefängnis existierte: "Hierher brachte man politische Gefangene. Sie wurden erst verhört, dann gefoltert. Und viele von ihnen danach exekutiert."
Der chilenische Diktator Augusto Pinochet war ein Freund des Sektenführers Schäfer. Politische Gegner ließ er auf dem Gelände der Deutschen verschwinden. Nach deren Leichen suchen die Behörden. Carrozas Ermittlungsteam nimmt uns mit, dorthin, weiter oben im Wald der Colonia Dignidad, wo sie ein Massengrab vermuten. Überall nehmen sie Bodenproben, suchen systematisch nach Knochen, Zähnen oder DNA-Spuren der ermordeten Pinochet-Gegner.
Ein Polizist erklärt seine Arbeit: "Wir Chilenen müssen uns unserer Vergangenheit annehmen. Das hier ist der wohl dunkelste Teil davon, den wir aufklären und der Welt zeigen müssen." Doch bislang: Fehlanzeige.
Die Angehörigen der Junta-Opfer
Gleichzeitig warten ein paar Kilometer entfernt im Städtchen Parral die Familien der verschwundenen Folteropfer auf Antwort auf die Frage, wohin ihre Söhne und Brüder damals von den Schergen der Diktatur verschleppt und wo sie ermordet wurden. Myrna Troncoso vom Verein "Familien verschwundener Häftlinge": "Wir sind verpflichtet, unsere Angehörigen zu suchen. Sie befinden sich im Nirgendwo. Deshalb sind wir in der Pflicht. Meine Mutter hatte begonnen, meinen verschwundenen Bruder zu suchen. Ich habe ihr geschworen, diese Suche fort zu führen."
Maria Escanilla von derselben Organisation: "Deutschland muss helfen. Es trägt eine Mitschuld." Und Anna Aguayo Fernandez will Gewissheit: "Unser Schmerz wird erst enden, wenn wir die Reste unserer Angehörigen finden. Selbst wenn wir nur eine Leiche entdecken, wird der Schmerz, den wir bis heute empfinden, zumindest ein Stück kleiner."
Sieben Autostunden weiter südlich: Die Region Los Lagos. In großer Distanz zum Gelände der Sekte – dem fundo, wie er es nennt – versucht Harald Lindemann, so gut es eben geht, zu leben. Wenn die Kartoffelpreise fallen, macht er Verluste und muss neue Kredite aufnehmen. Ihn schmerzt, dass er trotz lebenslanger Arbeit und Ausbeutung nicht daran denken kann, sich irgendwann zur Ruhe zu setzen: "Ich kann nicht aufhören, weil wir ums Überleben kämpfen, weil wir bis heute noch keinen Anteil, nichts haben von unserer Arbeit, die wir im fundo geleistet haben, 40 Jahre lang. Das war alles ohne Lohn, es wurde nichts auf die Renten aufgezahlt."
So wird Harald wohl auch als Rentner bis zuletzt von der Kartoffelernte leben müssen. Zumindest solange es die deutsche Regierung nicht schafft, doch noch unbürokratisch eine Entschädigung zu zahlen. Das würde ihm einen Lebensabend in Würde ermöglichen.
Autor: Matthias Ebert, ARD Rio de Janeiro
Stand: 03.08.2019 05:27 Uhr
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