Mo., 18.06.18 | 04:50 Uhr
Das Erste
Kolumbien: Vor der Zerreißprobe
Elinors suchender Blick gilt der Mutter. Hier waren sie eigentlich verabredet. Elinor hat Medikamente besorgt, denn ihre Mutter leidet unter Epilepsie. Drüben in Venezuela gibt es kaum mehr etwas, weder Medikamente, noch Lebensmittel; die Regierung Maduro hat das Land heruntergewirtschaftet. Das kolumbianische Grenzkaff Santander profitiert davon: die Venezolaner kommen, um hier einzukaufen. Manche schmuggeln unter den Augen der Grenzsoldaten das einzige, was in Venezuela noch billig ist: Benzin. Vielleicht ist ihre Mutter ja drüben hängengeblieben. Elinor will sie auf der anderen, der venezolanischen Seite suchen.
Flüchtlinge aus Venezuela
Zwei Busstunden entfernt: Cúcuta, Elinor Zampranos neue Heimat in Kolumbien. Sie bewohnt ein Zimmer in diesem Haus, in dem auch andere Flüchtlingsfamilien untergekommen sind. Sie hat viel aufgegeben: ihr Haus, den Beruf, ihre Mutter. Und ihre beiden Kinder leben noch in Venezuela: "Es geht nicht so sehr ums Materielle, sondern um die Familie, den Sohn, die Tochter, meine kranke Mutter. Es war alles unglaublich schlimm, furchtbar. In der Nacht konnte ich manchmal kaum schlafen. Hier schläft man auf dem Boden, aber das ist egal. Und es immer noch besser als trotz großer Anstrengungen kein Essen kaufen zu können, und die Tochter fragt in der Nacht: 'Mami, hast du nicht einen Pfannkuchen für mich?'"
Dass Elinor Unterschlupf gefunden hat in Kolumbien hat sie ihr zu verdanken: Angelica Ramos. Zusammen mit ein paar Freundinnen kauft sie für eine Art privater Armenspeisung ein. Angelica wurde aus Venezuela ausgewiesen. 18 Jahre, nachdem sie vor den Kämpfen zwischen Rebellen und Paramilitärs aus Kolumbien dorthin geflohen war. Es gibt Suppe für alle, umsonst, finanziert von Spenden. Angelica hat das Haus ihrer Familie für Flüchtlinge geöffnet. Es leben immer einige Familien hier, solange, bis sie etwas Besseres gefunden haben. Miete zahlt jeder, so viel er kann.
Angelica Ramos erinnert sich: "Ich habe das am eigenen Leib erlebt. Wenn man es selbst mitbekommen hat, diese Katastrophe, dann fühlt man den Schmerz mit. Ich habe das selbst erlebt."
Kampf um die Existenz
Eine Privatinitiative, wo der kolumbianische Staat versagt. Es gibt keine institutionalisierte Hilfe für Flüchtlinge.
Wer nicht bettelt, schlägt sich mit Gelegenheitsarbeiten durch: Junge Frauen verkaufen Bonbons, Limonade, manche ihr Haar, manche ihren Körper. Mehr als 200.000 Venezolaner leben nach offiziellen Angaben in Kolumbien. Tatsächlich sind es wohl zwei- bis dreimal so viele.
Sie drängen sich vor allem hier, am Grenzübergang in Cúcuta. Doch diesmal sorgen Kolumbianer für einen Massenauflauf, Anhänger dieses Mannes, Iván Duque, des Präsidentschaftskandidaten der extremen Rechten. Die venezolanischen Nachbarn seien ihm ein Anliegen, sagt er: "Wir wollen Venezuela humanitär unterstützen und unsere venezolanischen Brüder, die unter fürchterlichen Umständen hier ankommen. Eine Reform der Einwanderungspolitik, damit sie bessere Chancen haben."
Politversprechen, die auf den Plätzen Cúcutas von Duques Helfern unters Wahlvolk gebracht werden. Cúcuta ist für den Rechtsaußen ein Heimspiel: 70 Prozent haben hier im ersten Wahlgang für ihn gestimmt, fünf Prozent für seinen Kontrahenten, Gustavo Petro, den Linken, der früher selbst Rebell war. Petro findet in Cúcuta nicht statt: ein einziges Wahlplakat wirbt für ihn. Bei einem Besuch im März griff der Mob seinen Wagen an.
Wie immer die Wahl ausgehen wird, sie wird Cúcuta, wird das ganze Land spalten: Unter dem linken Petro befürchten viele ein zweites Venezuela, unter dem rechten Duque Korruption und Kungeln mit den Drogenbossen und Großgrundbesitzern.
Und der historische Friedensvertrag mit den FARC-Rebellen nach 50 Jahren Bürgerkrieg, er könnte bei einem Sieg Duques in Gefahr geraten.
Kolumbien-Venezuela und zurück
Leo Guerrero ist Bäcker – seit acht Tagen. Der gelernte Sportlehrer floh nach Venezuela, als sein Bruder in Kolumbien von Rebellen ermordet wurde, schuftete als Hilfsarbeiter, eröffnete später eine Eisdiele. Aber inzwischen können sich die Venezolaner Eis nicht mehr leisten: "Deshalb sind wir halt wieder ins eigene Land zurückgekehrt, obwohl es hier immer noch genauso gefährlich ist. Aber ich sage immer: solange man am Leben ist, gibt es Hoffnung."
Zurück in Kolumbien zog Leo zuerst mit einer Karre durch die Straßen und verkaufte Gemüse. Jetzt konnte er mit Hilfe eines Kredits die Bäckerei eröffnen: "Hier in Kolumbien wird die Krise von Tag zu Tag schlimmer trotz des sogenannten Friedens. Wir bräuchten echten Frieden, in dem die Opfer entschädigt werden, Gerechtigkeit. Auch der Staat gehört vor Gericht, weil er in viele Fälle verwickelt ist. Und die Zivilbevölkerung sollte die obersten Militärs anklagen."
Die Familie erwartet nichts von der Wahl. Die Politiker würden alle dasselbe Märchen erzählen, dass sie den bewaffneten Kampf beenden, dass sie die Menschen aus der Armut befreien. Passieren, sagt Leo, würde stattdessen nichts.
Hier im Viertel Jose Bernal in Cúcuta leben die Menschen von der Hand in den Mund. Und es kommen immer mehr venezolanische Flüchtlinge, kolumbianische Rückkehrer. Sie bauen sich armselige Häuser und hoffen auf einen Job und auf Bildungschancen für ihre Kinder, so wie Elinor, deren kranke Mutter noch in Venezuela lebt. Hier in Santander wollten sie sich treffen, aber die Mutter hat nicht gewartet: sie fühlte sich zu schlecht, ist schon zurückgereist. Sie werden sich wohl erst nächsten Monat sehen, wenn Elinor sich wieder ein Busticket nach Santander leisten kann.
Autor: Stefan Maier, SWR
Stand: 05.08.2019 04:27 Uhr
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