Mo., 18.06.18 | 04:50 Uhr
Das Erste
Türkei: Wahlentscheidung in den Kurdengebieten
Diyarbakir – Die heimliche Hauptstadt der Kurden im Südosten der Türkei. Im Frühjahr 2016 kämpfte hier das türkische Militär gegen die PKK. Im historischen Stadtteil Sur wurden viele Menschen getötet, Gebäude zerstört. Der Wiederaufbau hat begonnen, doch die Wunden sind noch tief.
Selahattin Demirtas Gesicht können dessen Anhänger derzeit nur als Foto sehen. Der charismatische frühere Parteichef der prokurdischen HDP sitzt seit mehr als einem Jahr im Gefängnis. Der türkische Staatspräsident Erdogan behauptet, Demirtas unterstütze die als Terrororganisation eingestufte PKK. Demirtas entgegnet, er sei im Gefängnis, weil er Erdogan und seine Regierung kritisiere. Obwohl Demirtas in Haft ist, hat ihn die HDP zum Präsidentschaftskandidaten gemacht.
Diese Fotos sind im Gefängnis entstanden. Von dort betreibt er Wahlkampf und beantwortet Journalistenfragen. Der ARD richtet er über seine Anwälte aus: "Ich habe vom Gefängnis aus nicht die Möglichkeit für eine wirkungsvolle Kampagne. Aber in meinem Namen sind Millionen von jungen Menschen und Parteimitgliedern auf den Straßen und machen Wahlkampf. Ich unterstütze sie so gut es geht mit Botschaften, die über das Internet verbreitet werden."
HDP-Hochburg im Südosten
Die HDP war in den letzten Jahren die meist gewählte Partei im Südosten. An zweiter Stelle stand stets die Erdogan-Partei AKP.
Recep Bektas ist kurdischer Geschäftsmann in Diyarbakir und glühender Erdogan-Fan. Der AKP Anhänger zeigt uns seine neue Firma. Bektas sagt, Erdogan habe den Kurden viele Freiheiten gegeben, wie kurdische Fernsehsender oder Lehrveranstaltungen auf Kurdisch in der Universität. Er habe für wirtschaftlichen Aufschwung im Südosten gesorgt. Auch sein neues Unternehmen habe Fördergelder bekommen: "Wir lieben Erdogan sehr. Die Bevölkerung im Südosten liebt ihn. Es geht hier gar nicht so sehr um die Parteien. Aber was Erdogan alles gemacht hat, das kann man nicht leugnen. In all den Jahren, seit es die Türkei gibt, hat er das Meiste für die Kurden getan."
Wir begleiten Bektas zu Erdogans Kundgebung in Diyarbakir. Stolz trägt er die türkische Nationalflagge. Während der kurdische Konkurrent Demirtas im Gefängnis sitzt, kann der türkische Staatspräsident Erdogan ungehindert Wahlkampf machen. Er verspricht den Kurden nichts Neues: "Die von mir eingeführten Reformen bedauere ich nicht. Wir werden keines der den Kurden gewährten Rechte zurücknehmen."
Erdogan grüßt seine Anhänger mit dem Zeichen der ägyptischen, islamistischen Muslimbrüder. Sie erwidern den Gruß.
AKP-Anhänger Recep Bektas ist begeistert: "Wir sind sehr dankbar, dass er die Brüderlichkeit zwischen den Türken und den Kurden so betont hat."
Allianz gegen Erdogan
Mehr als die Hälfte der Kurden sind islamisch-religiös geprägt und konservativ. Dennoch ärgert viele, dass sich Erdogan mit der ultranationalistischen Partei MHP verbündet hat. Die MHP stand in der Kurdenfrage stets für eine harte Hand. So haben die Islamisten der Saadet-Partei diesmal eine Chance Erdogans AKP Stimmen wegzunehmen. Hasim Hasimi ist Parlamentskandidat der Saadet-Partei. Man sagt, seine Familie stamme vom Propheten Mohammed ab. Hinter Hasimi steht ein einflussreicher kurdischer Clan: "Wir erleben eine Krise. Deshalb haben wir eine Mission. Es gibt derzeit keine Friedenspolitik. Erdogan hätte nicht mit den Nationalisten kooperieren dürfen."
60.000 Stimmen benötigt Hashemi, um ins Parlament zu kommen. Um Erdogan zu stoppen, sind die Islamisten der Saadet-Partei eine ungewöhnliche Allianz eingegangen: sie haben sich mit der sozialdemokratischen Partei CHP verbündet. Diese konnte früher im kurdischen Südosten keinen Blumentopf gewinnen. Dennoch ist Muharrem Ince, Kandidat der größten Oppositionspartei CHP, nach Diyarbakir gekommen. Ince erinnert daran, dass er den HDP Präsidentschaftskandidaten Demirtas im Gefängnis besucht hat. Im Publikum sind viele Demirtas-Anhänger. Inces Kalkül: Sollte Erdogan bei der Wahl in einer Woche die 50-Prozent-Hürde nicht schaffen, kann Ince zwei Wochen später gegen Erdogan in einer Stichwahl antreten. Dann braucht er die Stimmen der Kurden: "70 Prozent in Diyarbakir werden Ince unterstützen. Ich wähle die HDP, aber in einer Stichwahl werde ich in jedem Fall ihm meine Stimme geben. Ich sehe die Menschen um mich herum und bemerke, wie die Unterstützung für Ince zunimmt."
Der HDP-Kandidat Demirtas schreibt aus der Haft: "Wir unterstützen einen Kandidaten, mit dem wir uns in den für uns prinzipiellen Fragen einigen können. Natürlich nur, wenn ich es nicht in die zweite Runde schaffe."
Seine Anhänger am Abend beim Fastenbrechen in Diyarbakir: Ihre Stimmen dürften dem türkischen Staatspräsidenten Erdogan und seiner AKP bei dieser Wahl ernsthaft Kopfschmerzen bereiten.
Autor: Oliver Mayer-Rüth, ARD Istanbul
Stand: 05.08.2019 04:27 Uhr
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