Mo., 18.06.18 | 04:50 Uhr
Das Erste
Türkei: EU-Hilfen – wofür?
Dies ist die Schaukel des kleinen Efe. Das Grundstück in dem Istanbuler Vorort Tuzla war seine liebste Spielwiese. Nurdan Boz sagt: "Mein Sohn hat wegen einer Fahrlässigkeit bei einem Schulunfall sein Leben verloren. Dann darf es doch nicht sein, dass die Verantwortlichen weiter ihr Leben in Ruhe fortführen dürfen, während wir noch immer leiden!? Wir können niemals mehr so leben, wie es früher war."
Als der sechsjährige Efe sich in der Schule die Hände waschen wollte, zerbrach das Waschbecken und durchschnitt beim Sturz des Jungen die Halsschlagader. Acht Jahre später suchen die Eltern noch immer Gerechtigkeit. Doch die Schulbehörden mauern – sie verhinderten die Anklage des Schuldirektors.
Unterstützung durch die EU
Mehmet-Onur Yilmaz leitet die Organisation "Gündem Cocuk". Er kämpft für die Rechte und den Schutz von Minderjährigen, unterstützt von der EU. Efes Fall habe ihn auf die Baumängel in staatlichen Schulen aufmerksam gemacht: "Uns wurde nach längeren Recherchen klar, dass jedes Jahr mindestens 20 Schüler bei ähnlichen Schulunfällen sterben. Hunderte werden verletzt oder bleiben körperlich behindert."
Von ihrem Büro in Ankara aus hatte "Gündem Cocuk" mit dem türkischen Bildungsministerium dann ein Sicherheitskonzept für Schulen ausgearbeitet. Als sie sich jedoch bei einem anderen Projekt zu Kindern in Kurdengebieten regierungskritisch äußerten, wurde dies von Präsident Erdogan kritisiert. Mehmet-Onur Yilmaz erzählt: "Am 21. November 2016 erfuhren wir, dass unsere Organisation verboten und geschlossen wird. Am Nachmittag kamen Polizei und Regierungsbeamte, schlossen alles und versiegelten das Büro. Sie listeten unser Inventar auf, sperrten unsere Konten und konfiszierten das Geld, inklusive 10.000 Euro - Geld von der EU. Die Sachen des Vereins befinden sich seitdem in diesem versiegelten Raum. Sie gehören jetzt dem Staat."
Terrorunterstützung sei der Vorwurf der türkischen Behörden. Doch eine offizielle Anklage erfolgte bis heute nicht.
Die EU in der Türkei
Verantwortlich für die die Umsetzung der EU-Projekte gemeinsam mit der Türkei ist die EU-Botschaft in Ankara. Er kenne natürlich den Fall "Gündem Cocuk", sagt uns der österreichische Diplomat Christian Berger. Doch sei das türkische Verbot der Organisation verschmerzbar, meint Christian Berger, EU-Botschafter in Ankara: "Man muss das auch in größerem Rahmen sehen: Also, es gibt ungefähr 110.000 Organisationen in der Türkei, Verbände, Vereine etc. Davon sind, glaube ich, 1400 geschlossen worden. Und davon sind neun die, mit denen wir zusammenarbeiten."
Dass die Zahl der Aktivisten, die in türkischen Organisationen für Bürger- und Grundrechte arbeiten, um Dreiviertel zurückgegangen ist, erwähnt der EU-Botschafter nicht. Der europäische Rechnungshof kritisiert zudem, dass Kontrolle und Nachhaltigkeit von EU-Projekten oft mangelhaft seien - Berger widerspricht: "Wenn das zum Beispiel ein Infrastrukturprojekt ist, dann fährt man vor Ort, sieht sich an, wie das umgesetzt wird. Man sieht sich auch die Ausschreibung an, man kontrolliert die Ausschreibung, dass die normkonform erfolgen."
Erfolgreiche EU-Projekte…. wir wollen das überprüfen: im Istanbuler Justizpalast wie im ganzen Land wurden Gerichtssprecher ausgebildet und Pressestellen eingerichtet, ein Vorzeigeprojekt der EU - Kosten: 1,7 Millionen Euro.
Ein Vorzeigeprojekt?
Oberstaatsanwalt Murat Caglak ist Chef der Presseabteilung für Staatsanwälte. Zu unserer Überraschung hat er keine EU-gerechte Sprecher-Ausbildung genossen, und, dies ist sein erstes Fernsehinterview, gesteht er: "Wir legen hier Wert auf die Pressefreiheit und auf die Journalisten, die das Recht haben, einwandfreie Informationen zu erhalten.", vergewissert uns der Sprecher. Wir dürfen dann die Mitarbeiter des Pressebüros kurz bei ihrer Arbeit beobachten: Die Beamten stellen gerade die tägliche Pressemappe zusammen – ansonsten ist wenig zu tun, so unser Eindruck. Als wir den Oberstaatsanwalt nach den Tätigkeitsnachweisen der Abteilung fragen, kommt er etwas ins Schwitzen …. Kurze Unterbrechung des Interviews: ein Mitarbeiter bringt schnell den richtigen Ordner – nach wenigen Minuten scheint die Sachlage klarer: „Die letzte Pressemitteilung sei von Dezember 2017“, erklärt der Gerichtssprecher dann, im Schnitt veröffentliche man knapp sechs Stück pro Jahr.
Eine der letzten unabhängigen Zeitungen der Türkei ist Cumhuriyet – viele ihrer Mitarbeiter saßen oder sitzen noch in Haft. Wir treffen die Gerichtsreporterin Canan Coskun und fragen sie nach dem EU-geförderten Projekt für Pressestellen und Gerichtssprecher. Ja, sie kenne das Büro, so die Journalistin, doch diene es nur regierungsnahen Medien: "Während des Gerichtsverfahrens in Sachen Cumhuriyet beispielsweise, bekamen die oppositionellen Rechtsanwälte und Medienvertreter keine Informationen zum Rechtsstreit. Die staatliche Nachrichtenagentur aber erhielt alle Details des Ermittlungsverfahren."
Ich zeige der Gerichtsreporterin den abschließenden Bericht der EU-Kommission zu dem EU-Projekt. Darin wird es als erfolgreich gewertet und die politische Unterstützung der Türkei gelobt … da reagiert Canan sauer: "Ich verstehe das nicht. Mit welchen greifbaren Daten kommen sie zu so einem Erfolgsbericht? Schauen sie: die Online-Beschreibung des EU-Projekts nennt Pressefreiheit und eine unabhängige Justiz als Voraussetzung für gute Presspressearbeit. Diese Voraussetzungen existieren aber nicht. Diese Werte müssen aber da sein, bevor sie sich auf Pressestellen übertragen lassen."
Für Canan Coskun ist das EU-Projekt also eine große Enttäuschung. Gleichzeitig verwaltet der Oberstaatsanwalt den rechtsstaatlichen Stillstand.
Autor: Bernd Niebrügge, ARD Istanbul
Stand: 05.08.2019 04:27 Uhr
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