Mo., 05.10.20 | 23:55 Uhr
Das Erste
Geschichte im Ersten: Villa Einheit
Es ist das Jahr eins nach der Einheit, als mehrere junge Medizinstudentinnen und -studenten aus Jena eine alte Villa besetzen, Mauern einreißen, mit unorthodoxen Mitteln 40 Jahre alten Schwamm beseitigen und eine "GbR des privaten Glücks" gründen.
30 Jahre später sind sie IT-Berater, Chef- und Oberärzte in Deutschland, Großbritannien, der Schweiz und den USA. Sie treffen sich noch einmal im Hof des kollektiv "instandbesetzten" Hauses, um ihre ganz persönliche Einheitsbilanz zu ziehen.
Symbol für eine ganze Generation
Der Film "Villa Einheit" ist eine kleine Einheitsgeschichte und zugleich eine kleine Geschichte der Einheit. Das Haus, in dem sich Schwamm aus 40 Jahren tief ins Gebälk gefressen hat, wirkt fast symbolisch für ein Land, das länger auf seine "blühenden Landschaften" warten muss, als von vielen erhofft.
Und die jungen Studenten in ihren ausgemusterten NVA-Overalls und neuen OP-Anzügen auf der Baustelle werden zum Symbol einer Generation junger Ostdeutscher, für die – unbelastet vom alten System und neugierig auf das neue – der Mauerfall genau zur rechten Zeit kam.
Sie glauben zunächst fest daran, dass jeder seines Glückes Schmied ist, und sind der erste Jahrgang nach der Wende, der sich im September 1990 an der Uni in Jena einschreibt. Und dort feiern sie auch in der Nacht vom 2. auf den 3. Oktober die Deutsche Einheit.
Aufbau eines neuen Lebens
Sven, einer der Studenten, hat sich vom Begrüßungsgeld eine Kamera gekauft und filmt: das Wohnheim in seiner Barackentristesse und die nachdenklichen Gesichter, als der Reporter im Radio von den offiziellen Feierlichkeiten am Brandenburger Tor in Berlin berichtet und zum letzten Mal die DDR-Hymne und zum ersten Mal die neue gemeinsame Deutschland-Hymne erklingen.
In Berlin knallen die Feuerwerkskörper, in Jena spiegelt sich in den Gesichtern die ganze Palette der Gefühle einer Generation, die sich gerade vom Staat ihrer Kindheit und Jugend befreit hat und jetzt unter völlig veränderten Vorzeichen ihr Leben zu bauen beginnt.
Doch das Zaudern hält nicht lang an. Schnell wird klar, dass das asbestverseuchte DDR-Wohnheim den Ideen dieser Aufbruchsgeneration nicht genügt. Schon bald fängt die Seminargruppe zwischen den Vorlesungen an zu renovieren. Und die Kamera läuft mit, filmt, wie DDR-Gerüste nach Handbuch zusammengeschraubt und fahrlässig in Krankenhauslatschen betreten werden.
Wie Dachrinnen mehrere Meter über dem Abgrund hängend, gereinigt und 40 Jahre alte Ablagerungen abgetragen werden. Es ist nicht klar, ob die Gerüste und die Balkone tragen. Mehrfach ist das Haus vom Einsturz bedroht, immer wieder werden Gemeinschaftssinn, Vertrauen und der Umgang mit den knappen Ressourcen herausgefordert.
Aus Hausbesetzern werden Hausbesitzer
Doch diese jungen Menschen sind wild entschlossen, ihr Glück zu machen: endlich das Fach zu studieren, das ihnen die DDR zum Teil verwehrt hatte, endlich zu reisen und die Welt zu sehen und endlich so zu wohnen, wie sie sich es immer erträumt haben. Auch als der Wessi sie alle mit der Nachricht überrascht, dass das Haus verkauft werden soll und sie zum ersten Mal in ihrem Leben erfahren, dass Eigentum verpflichtet.
Während der Osten noch Marktwirtschaft übt, sich mit den Lasten seiner Vergangenheit plagt und Besitzverhältnisse neu geordnet werden, werden aus den Hausbesetzern Hausbesitzer. Die deutsche Einigung ist für sie selbst schon bald Geschichte. Europa heißt ihr neuer Traum.
Ein Film von Marion Ammicht
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