"Nicht einfach ein Biopic": Statements zum Film

"Was man gegenvorschlägt, hält man auch": Statement von Katharina M. Trebitsch (Produzentin)

Über Konrad Adenauer, Willy Brandt und Helmut Kohl gibt es teilweise fiktionalisierte Filme. Über Helmut Schmidt nicht. Außerdem komme ich aus einer Familie, wo jede Meinung erlaubt war, nur keine gegen Helmut Schmidt. Vielleicht wäre der 92. Geburtstag die Gelegenheit für eine Dokufiktion, auch um herauszufinden, ob meine Eltern Recht hatten. Also schriftlich 2009 eine entsprechende Anfrage an Herrn Schmidt. Die Absage kam schnell: "Deshalb mache ich Ihnen einen Gegenvorschlag: Lass uns warten bis in Annäherung an meinen 95. Geburtstag; er wäre jedenfalls ein rechtfertigender Anlaß (übrigens werde ich den durchaus erreichen, mein Nikotinverbrauch wird dafür sorgen)". Also Wiedervorlage.

Danach immer noch keine große Begeisterung, aber die Zusage zu einem Interview in seinem Büro im Mai 2012. Was man gegenvorschlägt, hält man auch. Danach ein geöffnetes Privatarchiv und sehr viel Vertrauen. Das war die Chance und gleichzeitig die Bürde: Wie schafft man es, dieses Vertrauen zu rechtfertigen? Die Fragen von Giovanni di Lorenzo, das Buch von Sebastian Orlac, die Recherchen von Florian Scheibe, die Regie von Ben von Grafenstein, die Schauspieler und eine Redaktion, die bereit war, bei den Handelnden Neuland zu betreten, haben es möglich gemacht.

Im Laufe der Arbeit hat Helmut Schmidt nicht nur Vertrauen gegeben, sondern auch Vertrauen gefasst. Beim zweiten Interview ein Jahr später, zu Pfingsten am Brahmsee, spürt man es. Während des Entstehens dieses Films, beim Besichtigen seines Lebens, konnte ich auch von Helmut Schmidt noch einmal lernen: So angstfrei wie möglich zu sein, darauf kommt es an. Darum habe ich mich auch getraut auf seine Frage "Das wird wohl der letzte große Film über mich sein?" "Ja" zu sagen. Aber vielleicht habe ich mich doch nur wieder nicht getraut zu widersprechen, wie damals bei meinen Eltern.

Helmut Schmidt
Auch für Filmemacher faszinierend: Helmut Schmidt. | Bild: dpa

"Fotos sind das Privateste in einer Privatexistenz": Statement von Patricia Schlesinger (Leiterin Programmbereich Kultur und Dokumentation NDR):

Über Helmut Schmidt ist viel geschrieben und viel gesagt worden, von ihm selber und von anderen, in Büchern wie in Filmen. Er ist lebende Geschichte und er kann lebendig über sein Leben erzählen, das identisch ist mit dem 20. Jahrhundert und ins 21. reicht. Das Interesse an ihm lässt nicht nach, was an der Resonanz seiner Interviews über die Weltlage gut ablesbar ist. Die Deutschen hören hin, wenn der Bundeskanzler a.D. spricht und sie schalteten ein, als Helmut und Loki vor fünf Jahren für unsere Produktion "Wir Schmidts" auf dem Sofa saßen und aus ihrem Leben erzählten, einem Leben, das ebenso exemplarisch wie normal verlief, vor allem in den Jahren vor und im Zweiten Weltkrieg. Helmut Schmidt ist und bleibt der Weltökonom, wie er schon als Kanzler halb bewundernd, halb abschätzig genannt wurde. Und auch von Helmut Schmidt, dem Privatmann, könnten wir fast glauben, alles zu wissen. Ein Irrtum, wie sich zeigt.

Als Katharina Trebitsch in Aussicht stellte, exklusiv einen Blick in Helmut Schmidts fotografische Erinnerungssammlung zu werfen, waren wir sofort angetan. Fotos sind das Privateste in einer Privatexistenz. In Fotos zu blättern, ist ein großes, anrührendes Vergnügen, das Erinnerungen weckt und nicht nur Geschichten erzählt, sondern Geschichte. Fotos sprechen aber nicht selber, sie müssen zum Sprechen gebracht werden. Unsere Herausforderung bestand darin, eine filmische Form zu finden, durch die wir in diese Fotos das Leben zurückholen können, in dem sie entstanden sind.

In unserem Film blättert Helmut Schmidt selber in seinen Alben und lässt sich zum Erzählen anregen von Giovanni di Lorenzo, dem Chefredakteur der Wochenzeitung "Die Zeit". So entsteht ein Dialog über die Macht der Bilder, über die Privatheit des Privaten. Und wo es an Bildern oder Fotos mangelte, um eine Phase im Leben Helmut Schmidts zu erhellen, füllen wir die Lücke mit Inszenierungen. Diese Methode ist aus unserer Sicht zulässig, weil sie kenntlich macht, was historisch verbürgt ist und genau zwischen dem privaten Album Helmut Schmidts und unserer Inszenierung unterscheidet. Ja, über Helmut Schmidt ist viel geschrieben und gesagt worden. Aber erst jetzt, beim Blättern in seinen Fotoalben, rundet er sein Bild.

Helmut und Loki
Arm in Arm, Zigarettenrauch steigt auf: Helmut und Loki Schmidt in "Lebensfragen". | Bild: NDR

"Nicht einfach ein Biopic": Alexander von Sallwitz (Redakteur Dokumentation & Reportage NDR) über Inhalt und Anliegen des Films

Helmut Schmidt gehört zu den bekanntesten und beliebtesten deutschen Politikern, obwohl (oder vielleicht gerade weil) er seit 30 Jahren kein öffentliches Amt bekleidet. In einer Zeit, in der der Begriff "Politikverdrossenheit", oder besser "Politikerverdrossenheit", niemandem erklärt werden muss, weil er in einem Wort die weit verbreitete Sicht der Regierten auf die Regierenden charakterisiert, ist Helmut Schmidt davon ausgenommen.

Das war nicht immer so: Nicht zuletzt der Widerstand innerhalb seiner eigenen Partei und der Verdruss großer Teile der Bevölkerung gegenüber der Sicherheitspolitik, die Schmidt persönlich Anfang der 80er-Jahre verfochten hat, spielten eine Rolle bei der Beendigung seiner Kanzlerschaft – und als politischer Amtsträger. Das ist Geschichte. Und seitdem ist Helmut Schmidt im öffentlichen Diskurs stets präsent geblieben – als Vortragender, als Ratgeber in politischen und militärstrategischen Fragen, als Kommentator des politischen und wirtschaftlichen Geschehens, als Mahner, ja sogar als Wahlhelfer – und als Gatte in einer der wohl berühmtesten Ehen Nachkriegsdeutschlands.

So gibt es kaum etwas, was nicht über Helmut Schmidt und seine verstorbene Frau Loki gesagt, geschrieben und gesendet worden ist. Helmut Schmidt war Redner vor zahllosen Foren im In- und Ausland, Gast in zahllosen Talkshows, Protagonist in ebenso zahllosen Radio- und Fernsehdokumentationen und Dokudramen. Wozu dann noch einen weiteren Film über Helmut Schmidt? Grundsätzlich interessiert es immer, wie die "großen" Männer und Frauen der Geschichte zu dem wurden, was sie sind. Nicht nur bei Wahlkämpfen wird in den Biografien der Kombattanten genüsslich herumgestochert. Bei Menschen, die schon vom Amts wegen von einer gewissen Unnahbarkeit umgeben sind, bei denen das Offizielle gerne vom Privaten, vom Intimen getrennt wird, von dem, was einen Menschen zum Mächtigen macht oder machen soll, gerade bei diesen Menschen reizt es, zu erfahren, wer sich hinter dem Funktionsträger verbirgt.

Helmut Schmidt im Krieg
In einem Schützengraben an der Ostfront: Der Film vermittelt eine Vorstellung davon, was Helmut Schmidt im Krieg erlebt hat. | Bild: NDR

Geschätzt, von politischen Freunden und Gegnern

Von Helmut Schmidt weiß man da nicht viel. Ein Doppelhaus in Hamburg Langenhorn, Zigaretten ohne Ende, ein kleines Segelboot auf dem Brahmsee ... Interessanter noch als solche persönlichen Details sind Fragen, die mit der individuellen Lebensgeschichte zu tun haben, mit Einflüssen und Prägungen, die Menschen und ihre Überzeugungen formen. Helmut Schmidt war immer für seine klare Haltung, für seine scharfen Analysen und für sein dezidiertes, nicht selten unbequemes Handeln bekannt. Dafür wurde und wird er geschätzt, von politischen Freunden und Gegnern gleichermaßen. Vielleicht gerade, weil heutzutage solche klaren Haltungen bei vielen Politikern vermisst werden, ist es der Mühe wert zu untersuchen, wie sie sich bei einem Mann wie Helmut Schmidt gebildet haben. Dies ist Ansatz und Anliegen des Films.

Ein Biopic, die verfilmte Lebensgeschichte einer historischen Persönlichkeit, ist ein schillerndes Genre, oft eines, das erst nach dem Tode des Protagonisten ansetzt. Im Falle des vorliegenden Films besteht der Reiz gerade darin, dass die Hauptfigur, Helmut Schmidt, sich selbst erzählt – im Gespräch mit dem renommierten Journalisten Giovannidi Lorenzo. So können Fragen im Film selbst gestellt und beantwortet werden, die in der Filmbiografie einer verstorbenen Persönlichkeit nur mit Hilfe von Dokumenten, Zeitzeugen, Historikern behandelt werden können – sofern sie nicht in den Bereich der Fiktion gerückt werden müssen. Ein zusätzlicher Kommentar ist überflüssig.

"Helmut Schmidt – Lebensfragen" ist nicht einfach ein Biopic, das die Lebensgeschichte von Helmut Schmidt auf den Fernsehschirm bringen will. Es ist ein Film, der versucht herauszufinden, was Helmut Schmidt geprägt hat, welche kritischen Momente in seiner Biografie sein Denken und Handeln geformt haben, woraus sich seine Standhaftigkeit erklären lässt. Dazu dienen dem Film zwei Werkzeuge: das Gespräch mit Giovanni die Lorenzo und das Privatarchiv von Helmut Schmidt, die sehr persönliche und äußerst umfangreiche, liebevoll angelegte Sammlung von Erinnerungen und Fotos, die er exklusiv für diesen Film geöffnet hat. Ergänzt werden sie durch sparsam eingesetztes Archivfilmmaterial.

Besondere Momente in Schmidts Leben

Um daraus eine Filmerzählung zu machen, mit einer Handlung, die sichtbare Protagonisten und eine Dramaturgie hat, die einzelne Lebensabschnitte zu einem filmischen Ganzen narrativ verknüpfen, reicht dies natürlich nicht. Dazu werden in dem Film besondere Momente in Schmidts Leben szenisch dargestellt und kontrastieren so seine Erinnerungen und Antworten auf Fragen im Gespräch: Der Augenblick, als sein Vater ihm den Beitritt zur Hitlerjungend verbietet; die Entscheidung, als Soldat in den Krieg zu ziehen, den er doch eigentlich ablehnt und der schwere Abschied von seiner Freundin und späteren Frau Loki; das Erlebnis dieses Krieges im Schützengraben an der Front; die Auseinandersetzung über die Frage, ob man kämpfen oder Widerstand leisten soll im Kreise freiheitlich gesinnter Freunde; die Abrechnung mit den Schuldigen an diesem Krieg im Gefangenenlager; die ersten Erfahrungen mit den Schritt in die Öffentlichkeit als aufstrebender Nachwuchspolitiker; die erste Bewährung als Hamburger Innensenator während der Flutkatastrophe; die heikle Situation, gegen einen älteren Freund und Genossen in der eigenen Partei zur Wahl anzutreten; die aufgezwungene Entscheidung, der Politikone Willy Brandt im Amt als Bundeskanzler nachzufolgen – gegen die eigene Überzeugung; die Selbstverpflichtung, sich und seine Frau Loki im Falle einer politisch motivierten Geiselnahme nicht austauschen zu lassen; die Entscheidung für eine gewaltsame und riskante Befreiung unschuldiger Flugzeugpassagiere auf dem Rollfeld von Mogadishu; der Versuch, die unpopuläre westliche Nachrüstung gegen eine sowjetische Raketenbedrohung durchzusetzen; der Rückzug an den Brahmsee und schließlich der Entschluss gegen eine Rückkehr auf die große politische Bühne.

Diese Szenen, in denen Helmut Schmidt und seine Frau von mehreren Schauspielern in verschiedenen Lebensphasen über den Zeitraum eines Dreivierteljahrhunderts hinweg sensibel verkörpert werden, beziehen sich auf Helmut Schmidts Erzählungen und liefern das Material zu seinen Kommentaren. So werden Schritt für Schritt der Wahrnehmungskosmos sowie das emotionale und motivationale Gerüst erkennbar, die Helmut Schmidts Denken und Handeln bestimmt haben und immer noch bestimmen. Der Film will gleichwohl kein Psychogramm sein. Er bietet vielmehr Zugang zu einer Persönlichkeit, die bei aller öffentlichen Mitteilungsbereitschaft immer auch die Annäherung verweigert, mit einem schroffen "dazu sage ich nichts" den Fragesteller in seine Schranken verweist und Raum für Rätsel lässt. Es ist kein Film, der Helmut Schmidt erklärt, aber ein Film, der ihn näher bringt – als Mensch und als Politiker.

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