Faktencheck zu "maischberger"

Sendung vom 11.09.2024

Faktencheck

Die Gäste (v.l.n.r.): Hajo Schumacher, Anja Maier, Theo Koll, Reinhold Messner, Ron Williams, Eric T. Hansen
Die Gäste (v.l.n.r.): Hajo Schumacher, Anja Maier, Theo Koll, Reinhold Messner, Ron Williams, Eric T. Hansen | Bild: WDR / Oliver Ziebe

Bei Maischberger wird engagiert diskutiert, Argumente werden ausgetauscht, es wird auch schon mal emotional und manchmal bleibt am Ende keine Zeit, um alles zu klären. Wenn Fragen offen bleiben, Aussagen nicht eindeutig waren oder einfach weitere Informationen hilfreich sein könnten, schauen wir nach der Sendung noch einmal drauf – hier in unserem Faktencheck.

Und das schauen wir uns an:

  • Hat Bundesinnenministerin Faeser in ihrem Brief an die EU-Kommission eine Notlage erklärt?

Hat Bundesinnenministerin Faeser in ihrem Brief an die EU-Kommission eine Notlage erklärt?

Unsere Kommentatoren diskutierten in der Sendung über den migrationspolitischen Streit zwischen Ampel-Koalition und Union. In diesem Zusammenhang erklärte Theo Koll, dass die Forderung der Union, Migranten an der Grenze abzuweisen, grundsätzlich mit europäischem Recht kollidiere. Durch Erklärung einer sogenannten Notlage, so Koll weiter, könnte Deutschland das europäische Recht aber aushebeln – auch wenn es fraglich sei, ob die europäischen Gerichte dies zulassen würden. Hajo Schumacher sagte daraufhin, Bundesinnenministerin Nancy Faeser habe sich bereits mit einem Brief an die EU-Kommission gewendet und sich darin auf den Notstand berufen.

Brief an die EU-Kommission: Hat Nancy Faeser eine Notlage erklärt? | Video verfügbar bis 11.09.2025

Maischberger: "Ist das, was die Union wollte – das ist ja der Knackpunkt – ist das, was die Union wollte, rechtlich nicht möglich? Das ist ja der Vorwurf auch gewesen der Grünen vor allem."

Koll: "Der Hebel, den die Union ins Thema gebracht hat, ist etwas Anderes, nämlich eine sogenannte Notstandssituation. Die kann man über Artikel 72 einer europäischen Gesetzgebung beantragen. Die ist aber bisher – Ungarn zum Beispiel hat das schon versucht – vom Europäischen Gerichtshof immer abgelehnt worden."

Maischberger: "Das heißt, Deutschland müsste sagen, die Notlage ist so schlimm, dass wir jetzt dann –"

Schumacher: "Frau Faeser hat diesen Brief ja nach Brüssel geschrieben. Frau Faeser hat ja heute oder gestern, glaube ich, genau diesen Brief 'Notfallklausel' gezogen. (…) Frau Faeser hat ja den Brief geschrieben und sich genau auf diesen Notstand, auf diesen Notfall berufen. Von wegen an den Grenzen, Polizei, Grenzschützer und so weiter sind am Limit, können nicht mehr, deswegen auch Atempause. Und das ist ja das Interessante, es werden jetzt Dinge in Gang gesetzt, die vor ein paar Wochen noch als undenkbar galten."

Stimmt das? Hat Bundesinnenministerin Faeser in ihrem Brief an die EU-Kommission eine Notlage erklärt?

In einem auf Montag, den 9.9.2024, datierten Brief, der der "maischberger"-Redaktion vorliegt, wendete sich Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) an die EU-Kommission und rechtfertigte darin die Ausweitung der Grenzkontrollen, die sie am selben Tag öffentlich ankündigte. Die Ressourcen von Bund und Ländern zur Aufnahme und Versorgung von Flüchtlingen seien "nahezu erschöpft" und stießen "an die Grenzen des Leistbaren", schrieb Faeser. Eine "Überforderung des (solidarischen) Gemeinwesens" müsse verhindert werden. Zudem hätten "[n]eben den Gefahren durch den islamistischen Terrorismus" hierzulande auch "Vorfälle von Messer- und Gewaltkriminalität durch Geflüchtete zu einer massiven Beeinträchtigung des Sicherheitsgefühls und des inneren Friedens geführt", so Faeser weiter.

Die Grenzkontrollen, die zunächst für sechs Monate auf alle deutschen Landgrenzen ausgeweitet werden, sollen laut der Bundesministerin sowohl zur Eindämmung irregulärer Migration als auch zum Schutz der inneren Sicherheit beitragen. Zwar beschreibt Faeser in ihrem Brief die aktuelle Lage in Deutschland als stark angespannt, von einer "Notlage" oder einem "Notstand" ist aber nicht die Rede.

Den Begriff der Notlage hatte Oppositionsführer Friedrich Merz (CDU) Ende August in die Debatte gebracht. Er forderte die Bundesregierung dazu auf, Migranten an den deutschen Grenzen generell zurückzuweisen. Da ein solches Vorgehen mit europäischem Recht aber kaum vereinbar wäre, stellte Merz zur Diskussion, dies durch Erklärung einer "nationalen Notlage" durchzusetzen. Eine solche Notlage gemäß Artikel 72 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) würde es Deutschland erlauben, nationales über europäisches Recht zu stellen. Dazu wäre allerdings die Genehmigung der EU-Kommission notwendig. Außerdem ist fraglich, ob der Europäische Gerichtshof (EuGH) ein solches Vorgehen billigen würde. Mit den wichtigsten Fragen rund um die Notlage gemäß Artikel 72 AEUV haben wir uns bereits ausführlich im Faktencheck zur Sendung vom 28.8.2024 beschäftigt.

Auf Merz’ Notlage-Vorstoß, den verschiedene Vertreter der Union in den letzten Wochen mehrfach bekräftigten, geht Faeser in ihrem Brief an die EU-Kommission nicht ein. Zwar kritisiert sie darin "die zunehmende Dysfunktionalität" des sogenannten Dublin-Systems in Europa – also die Vereinbarung, dass Flüchtlinge in dem Land ihren Asylantrag stellen müssen, in dem sie erstmals europäischen Boden betreten haben. Doch gleichzeitig appelliert sie an ein gemeinsames Handeln innerhalb der EU, um das System zu verbessern.

Für die temporär erweiterten Grenzkontrollen, die die Bundesinnenministerin ankündigte, ist eine Zustimmung der EU-Kommission nicht notwendig. Sie muss aber über die Gründe informiert werden. Das war der Anlass für Faesers Brief.

Aber was ist eigentlich mit dem Schengen-Abkommen? Wurden mit dessen Einführung die Grenzkontrollen innerhalb Europas nicht eigentlich abgeschafft? Stimmt. Vorübergehende Grenzkontrollen sind laut dem Schengener Grenzkodex aber möglich. Allerdings nur "im Falle einer schwerwiegenden Bedrohung der öffentlichen Ordnung oder inneren Sicherheit" – und maximal drei Jahre am Stück. Alle sechs Monate müssen die Kontrollen bei der EU-Kommission neu begründet werden. 

Fazit: Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) begründete in ihrem Brief an die EU-Kommission die Entscheidung der Bundesregierung, vorübergehende Kontrollen an allen deutschen Landgrenzen durchzuführen. In dem Brief beschreibt Faeser die migrationspolitische Lage in Deutschland als stark angespannt, von einer "Notlage" oder einem "Notstand" ist aber nicht die Rede. Auch fordert die Bundesministerin nicht, deutsches über europäisches Recht zu stellen, um Migranten an der Grenze generell abzuweisen. Dies hatte die Union zuletzt wiederholt zur Debatte gestellt, auch unter Bezug auf die "nationale Notlage" gemäß Artikel 72 AEUV, die europäisches Recht unter gewissen Voraussetzungen aushebeln würde. Das alles ist jedoch nicht Gegenstand in Faesers Brief. Hierin geht es allein um die Grenzkontrollen.

Stand: 13.09.2024

Autor: Tim Berressem