Faktencheck zu "maischberger"

Sendung vom 24.09.2024

Faktencheck

Die Gäste (v.l.n.r.): Thorsten Frei, Julie Kurz, Robin Alexander, Sebastian Krumbiegel, Sevim Dağdelen
Die Gäste (v.l.n.r.): Thorsten Frei, Julie Kurz, Robin Alexander, Sebastian Krumbiegel, Sevim Dağdelen | Bild: WDR / Oliver Ziebe

Bei Maischberger wird engagiert diskutiert, Argumente werden ausgetauscht, es wird auch schon mal emotional und manchmal bleibt am Ende keine Zeit, um alles zu klären. Wenn Fragen offen bleiben, Aussagen nicht eindeutig waren oder einfach weitere Informationen hilfreich sein könnten, schauen wir nach der Sendung noch einmal drauf – hier in unserem Faktencheck.

Und das schauen wir uns an:

  • War die Stationierung russischer Iskander-Raketen in Kaliningrad laut INF-Vertrag zulässig?
  • Wie wurde über die Stationierung US-amerikanischer Raketen in Deutschland entschieden?

War die Stationierung russischer Iskander-Raketen in Kaliningrad laut INF-Vertrag zulässig?

Sevim Dağdelen (BSW) und Thorsten Frei (CDU) diskutierten in der Sendung u.a. über die europäische Sicherheitsarchitektur. Dabei kamen sie auch auf die Iskander-Raketen zu sprechen, die Russland vor einiger Zeit in Kaliningrad, einer russischen Exklave zwischen Polen und Litauen, stationierte. Dağdelen sagte, die Stationierung habe dem INF-Abrüstungsvertrag entsprochen und sei demgemäß in Ordnung gewesen. Der Vertrag, so die BSW-Politikerin weiter, habe eine gegenseitige Rüstungskontrolle zwischen den USA und Russland vorgesehen, die erst 2019 durch das Aufkündigen des Vertrags durch den damaligen US-Präsidenten Donald Trump beendet worden sei. Thorsten Frei widersprach und erklärte, Russland habe bereits seit 20 Jahren gegen den INF-Vertrag verstoßen.

Russische Raketen in Kaliningrad: Entsprach die Stationierung dem INF-Vertrag?

Dağdelen: "Die Iskander-Raketen in Kaliningrad, da möchte ich auch noch kurz was sagen. Die wurden 2016 unter der Ägide des INF-Vertrags dort stationiert. Das war alles vollkommen in Ordnung, bis der US-Präsident Donald Trump 2019 rausgegangen ist aus dem INF-Vertrag, [der dazu diente] diese Raketen sozusagen auch zu kontrollieren und die Verifikation auf beiden Seiten zu gewährleisten. Das heißt, das war alles völlig in Ordnung."

(…)

Frei: "Wenn Sie die Iskander-Marschflugkörper ansprechen, Mittelstreckenraketen, da muss man doch sagen, Russland hat seit 20 Jahren gegen den INF-Vertrag verstoßen. Dass die USA den dann formell gekündigt haben, war doch nur ein Schlusspunkt unter eine Entwicklung, die mit diesem Vertrag schon nichts mehr zu tun hatte."

Dağdelen: "Nein, Donald Trump hat das aus innenpolitischen Gründen gemacht, weil er China mit in den INF-Vertrag haben wollte."

Hintergrund: War die Stationierung russischer Iskander-Raketen in Kaliningrad laut INF-Vertrag zulässig?

Der INF-Vertrag (engl. Intermediate Range Nuclear Forces Treaty) trat 1988 in Kraft und verpflichtete die USA, Russland und elf weitere Nachfolgestaaten der Sowjetunion, landgestützte ballistische Raketen und Marschflugkörper mit einer Reichweite zwischen 500 und 5.500 Kilometern sowie ihre Startvorrichtungen und Infrastruktur zu zerstören. Zudem verbot der Vertrag die Produktion neuer Waffen vergleichbaren Typs. Damit minderte das Abkommen deutlich das Risiko einer militärischen Eskalation zwischen den beiden Blöcken und galt daher als Meilenstein auf dem Weg zur Überwindung des Kalten Krieges. Im Jahr 2019 wurde der Vertrag durch den damaligen US-Präsidenten Donald Trump gekündigt. Doch schon in den Jahren davor bezichtigten sich die USA und Russland immer wieder gegenseitig, den Vertrag verletzt zu haben.

INF-Vertrag: Iskander-Kurzstreckenraketen nicht verboten

Die von Russland in Kaliningrad stationierten Iskander-Raketen spielten in der Diskussion aber nie eine größere Rolle. Denn bei den herkömmlichen Iskander-Modellen handelt es sich um Kurzstreckenraketen mit einer Reichweite von maximal 500 Kilometern. Zwar lassen sie sich potentiell mit atomaren Sprengköpfen bestücken, doch auf Grund ihrer vergleichsweise geringen Reichweite gehören sie nicht zu der Gruppe von Raketen, die der INF-Vertrag bis zu seiner Aufkündigung verbot.

Die Verlegung von Iskander-Raketen in die Ostsee-Exklave Kaliningrad sorgte erstmals im Oktober 2016 für Schlagzeilen. Vor allem die Nato-Länder Polen und Litauen, die an die Exklave grenzen, zeigten sich besorgt. Das russische Verteidigungsministerium reagierte mit der Erklärung, die Raketen seien im Rahmen turnusmäßiger Manöver in der Region. Es handele sich um ein mobiles Raketensystem, das zu Ausbildungszwecken eingesetzt werde, hieß es damals. Im Mai 2018 dann bestätigte das russische Militär die dauerhafte Stationierung von Raketen in der Exklave. Eine Verletzung des INF-Vertrags wurde Russland in diesem Zusammenhang aber – wie oben bereits erläutert – nicht vorgeworfen.

US-Regierung: Russland verfügt über reichweitenstarken Iskander-Nachfolger

Anders verhielt es sich im Dezember 2018, als die US-Regierung unter dem damaligen Präsidenten Trump Geheimdienstinformationen veröffentlichte, wonach Russland über eine Weiterentwicklung der Iskander unter der Typen-Bezeichnung 9M729 verfüge, die eine deutlich höhere Reichweite von mehr als 2.000 Kilometern habe – was einen Verstoß gegen den INF-Vertrag bedeutet hätte. Bereits 2014 hatte die "New York Times" über einen entsprechenden Verdacht der US-Regierung – damals noch unter Präsident Barack Obama – berichtet. Nach den Anschuldigungen der Trump-Regierung im Dezember 2018 gab Russland die Existenz der neu entwickelten Raketen schließlich zu, bestritt jedoch einen Verstoß gegen den INF-Vertrag. Raketen mit verbotenen Reichweiten würden weder getestet noch entwickelt, hieß es aus dem russischen Außenministerium. Moskau erfülle in Gänze die Vertragsbestimmungen, betonte man.

Die übrigen Nato-Staaten schlossen sich den Vorwürfen gegen Russland an und beklagten eine Verletzung des INF-Vertrags. Nach Verstreichen eines 60-tägigen Ultimatums in Richtung Moskau kündigte die US-Regierung den Vertrag am 1. Februar 2019 schließlich mit einer sechsmonatigen Frist auf. Einen Tag später erklärte die Russische Föderation ebenfalls, den Vertrag zum August 2019 verlassen zu wollen.

Russlands neu entwickelte 9M729-Rakete gilt als zentraler Grund für die Aufkündigung des Abkommens durch die USA. Doch wie Sevim Dağdelen in der Sendung sagte, spielte auch China offenbar eine Rolle in Donald Trumps Entscheidung. Als Trump im Oktober 2018 bei einer Wahlkampfveranstaltung über seine Absicht sprach, den INF-Vertrag zu kündigen, begründete er dies nicht nur mit einer mutmaßlichen russischen Vertragsverletzung, sondern auch damit, dass China über ein umfangreiches Raketenpotenzial verfüge, das keinen vertraglichen Beschränkungen unterliege. Somit seien die USA in eine strategisch nachteilige Position geraten. China müsse daher in ein künftiges trilaterales Abkommen eingebunden werden, so Trump damals.

USA und Russland beschuldigten einander seit Jahren

Die Geschichte des INF-Vertrags ist geprägt von wechselseitigen Anschuldigungen zwischen den USA und Russland. Seit Anfang der 2000er Jahre bezichtigten sich die beiden Nuklearmächte immer wieder der fehlenden Regeltreue und des Vertragsbruchs. 2007 drohte Russland erstmals mit einem Ausstieg aus dem Abkommen. Hintergrund waren Bedenken gegen ein neues US-Raketenabwehrsystem, das die Vereinigten Staaten in Rumänien stationierten. Unabhängig überprüfen lassen sich all diese Anschuldigungen aber kaum.

Dass Donald Trump mit dem Ausstieg aus dem INF-Vertrag auch die gegenseitige Rüstungskontrolle zwischen den USA und Russland beendete, wie Sevim Dağdelen in der Sendung sagte, stimmt nicht. Der Vertrag sah lediglich vor, in den ersten 13 Jahren mit gegenseitigen Vor-Ort-Inspektionen zu überprüfen, ob die im Vertrag gelisteten ballistischen Raketen und Marschflugkörper sowie ihre Starteinrichtungen und Infrastruktur wie vereinbart zerstört wurden. Dieses sogenannte Verifikationsregime endete 2001 – also bereits 18 Jahre vor der Kündigung des Abkommens.

Fazit: Die Stationierung russischer Iskander-Raketen in der Ostsee-Exklave Kaliningrad geschah im Einklang mit dem INF-Abrüstungsvertrag. Zwar lassen sich die Iskander potentiell mit atomaren Sprengköpfen bestücken, doch auf Grund ihrer vergleichsweise geringen Reichweite gehören sie nicht zu der Gruppe von Raketen, die der INF-Vertrag bis zu seiner Aufkündigung im Jahr 2019 verbot. Generell ist die Geschichte des Abrüstungsabkommens geprägt von gegenseitigen Beschuldigungen der Vertragspartner. Unabhängig überprüfen lassen sich diese aber kaum. Als zentraler Grund für die Aufkündigung des Vertrags durch den damaligen US-Präsidenten Donald Trump gelten amerikanische Geheimdienstinformationen, wonach Russland über einen Iskander-Nachfolger mit deutlich höherer Reichweite verfüge.

Wie wurde über die Stationierung US-amerikanischer Raketen in Deutschland entschieden?

Sevim Dağdelen (BSW) äußerte sich in der Sendung zur geplanten Stationierung US-amerikanischer Raketen in Deutschland. In diesem Zusammenhang kritisierte sie Bundeskanzler Olaf Scholz, der mit dem Beschluss einen "Kotau" vor der US-Regierung geleistet und gleichzeitig die Sicherheit Deutschland aufs Spiel gesetzt habe. Die Hintergründe des Beschlusses schauen wir uns hier noch einmal näher an.

US-Raketen ab 2026 in Deutschland: Wurde Bundeskanzler Scholz von der US-Regierung überrumpelt?

Dağdelen: "Bundeskanzler Scholz war beim Nato-Gipfel in Washington. Ihm wurde eine Erklärung von den US-Amerikanern präsentiert, die er dann unterzeichnet hat, die letztendlich ein höheres Risiko für die Sicherheit in Deutschland bedeutet. Und Abgeordnete des Bundestages wie auch die Öffentlichkeit haben das aus der Zeitung erfahren."

Maischberger: "Ganz so überfallmäßig war es nicht, aber –"

Dağdelen: "Und das war natürlich ein Kotau, und deshalb nennt sie (gemeint ist die BSW-Vorsitzende Sahra Wagenknecht, Anm. d. Red.) ihn so (Wagenknecht bezeichnete Scholz öffentlich als 'Vasallenkanzler', Anm. d. Red.), weil das natürlich eine Frage der nationalen Sicherheit und auch der Souveränität bedeutet, wenn man so etwas unterschreibt, ohne vorher zu diskutieren."

Maischberger: "Die Diskussion hat gefehlt. Die Unterschrift war ein bisschen anders."

Hintergrund: Wie wurde über die Stationierung US-amerikanischer Raketen in Deutschland entschieden?

Im Rahmen des NATO-Gipfels in Washington im Juli 2024 gaben die USA gemeinsam mit Deutschland bekannt, Mittelstreckenwaffen in der Bundesrepublik stationieren zu wollen. Dabei geht es um Marschflugkörper vom Typ Tomahawk mit mehr als 2.000 Kilometern Reichweite, um Flugabwehrraketen vom Typ SM-6 und um neu entwickelte Überschallwaffen. Ab 2026 sollen die ersten dieser Waffensysteme nach Deutschland gebracht werden. Wo genau die Raketen stationiert werden sollen, ist noch nicht bekannt.

Bei der Stationierung soll es sich um eine vorübergehende Maßnahme handeln. Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) und Verteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) betonten mehrfach, dass mit den US-Raketen eine "Lücke" in der Abschreckungsfähigkeit Europas geschlossen werde, die seit dem Ende des INF-Vertrags im Jahr 2019 besteht.

Damit die europäischen Staaten in Zukunft auch eigenständig einen möglichen Angriff aus Russland effektiv abschrecken können, plant ein Zusammenschluss europäischer NATO-Mitglieder – dazu gehören Deutschland, Frankreich, Italien und Polen – die Entwicklung eigener Marschflugkörper mit einer Reichweite von mehr als 500 Kilometern. Diese Waffensysteme sollen nach Angaben der beteiligten Länder in fünf bis sieben Jahren einsatzbereit sein. Bis dahin soll die Abschreckung durch die Stationierung US-amerikanischer Raketen in Deutschland gewährleistet werden. Die Bundeswehr spricht von einem "Angebot der USA", das man angenommen habe.

Scholz für mangelnde Kommunikation kritisiert

Bundeskanzler Scholz wurde für den Beschluss teils heftig kritisiert. Mitglieder seiner eigenen Partei äußerten die Sorge vor einem neuen Wettrüsten mit Russland. Aus den Reihen der Grünen wurde Kritik an einer fehlenden öffentlichen Erklärung seitens des Kanzlers laut. Scholz hingegen verteidigte das Vorgehen der Bundesregierung: "Diese Entscheidung ist lange vorbereitet und für alle, die sich mit Sicherheits- und Friedenspolitik beschäftigen keine wirkliche Überraschung." Zudem passe sie auch genau in die Sicherheitsstrategie der Bundesregierung, die öffentlich diskutiert worden sei.

Der frühere SPD-Vorsitzende Norbert Walter-Borjans bemängelte, dass weder innerhalb der SPD noch im Bundestag über die Stationierung diskutiert worden sei. Auch Unionsfraktionsvize Johann Wadephul begrüßte den Entschluss zwar, forderte aber zugleich eine Debatte im Deutschen Bundestag.

Dass die Zustimmung des Parlaments unter juristischen Gesichtspunkten nicht notwendig war, stellte im August 2024 der Wissenschaftliche Dienst des Bundestages fest. Die Stationierung der Waffensysteme auf deutschem Boden beruhe auf den vereinbarten Verpflichtungen des NATO-Bündnissystems, heißt es in einem entsprechenden Gutachten.

Fazit: Ab 2026 sollen reichweitenstarke Raketen und Marschflugkörper der US-Armee in Deutschland stationiert werden. Das gaben die beiden Staaten beim NATO-Gipfel im Juli 2024 bekannt. Dabei soll es sich um eine vorübergehende Maßnahme handeln, um mögliche Angriffe aus Russland abzuschrecken, solange Europa dies nicht eigenständig gewährleisten kann. Dass Bundeskanzler Olaf Scholz von der US-Regierung mit diesem Beschluss überrumpelt wurde, wie Sevim Dağdelen es in der Sendung darstellte, lässt sich nicht belegen. Die Bundeswehr spricht von einem "Angebot der USA". Scholz selbst bezeichnete die Entscheidung als "lange vorbereitet" und "keine wirkliche Überraschung". Kritiker werfen Scholz indes mangelnde Kommunikation vor, weil weder seine eigene Partei noch der Bundestag in die Entscheidung einbezogen wurden.

Stand: 26.09.2024

Autor: Tim Berressem