Faktencheck zu "maischberger"
Sendung vom 09.10.2024
Faktencheck
Bei Maischberger wird engagiert diskutiert, Argumente werden ausgetauscht, es wird auch schon mal emotional und manchmal bleibt am Ende keine Zeit, um alles zu klären. Wenn Fragen offen bleiben, Aussagen nicht eindeutig waren oder einfach weitere Informationen hilfreich sein könnten, schauen wir nach der Sendung noch einmal drauf – hier in unserem Faktencheck.
Und das schauen wir uns an:
- Welchen Vorschlag machte Ex-NATO-Generalsekretär Rasmussen zum Beitritt der Ukraine?
Welchen Vorschlag machte Ex-NATO-Generalsekretär Rasmussen zum Beitritt der Ukraine?
Der ehemalige NATO-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen äußerte sich in der Sendung zu seinem Vorschlag, die Ukraine bereits jetzt in das nordatlantische Verteidigungsbündnis aufzunehmen. Rasmussen erklärte, man könne dabei vorgehen wie beim NATO-Beitritt Deutschlands, das damals noch in BRD und DDR geteilt war. Diesem Beispiel folgend könnte zunächst nur der Teil der Ukraine, der nicht von Russland besetzt ist, in das Bündnisgebiet aufgenommen werden, so Rasmussen.
Maischberger: "Herr Rasmussen, Sie haben mit einem Artikel schon im letzten Jahr gefordert, dass man im Prinzip die Ukraine jetzt schon – den Teil, der nicht von Russland besetzt ist – in die NATO aufnehmen sollte. Das wäre doch ja dann auch ein Weg, auch die NATO-Partner in diesen Krieg ganz direkt zu verwickeln. Ist es das, was Sie wollen?"
Rasmussen: "Nein. Ich habe mich lediglich auf das deutsche Modell bezogen. Als wir Deutschland damals in die NATO gelassen haben, haben wir auch akzeptiert, dass nur West-Deutschland von Artikel 5 abgedeckt wäre und Ost-Deutschland, das ja de facto von Russland besetzt war, eben von Artikel 5 nicht abgedeckt gewesen wäre. Das heißt, man könnte im Prinzip das gleiche Modell anwenden, wenn wir jetzt hier über die Ukraine sprechen."
Hintergrund: Welchen Vorschlag machte Ex-NATO-Generalsekretär Rasmussen zum Beitritt der Ukraine?
In einem Artikel, der am 11. November 2023 in der britischen Tageszeitung "The Guardian" erschien, schlug der ehemalige NATO-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen vor, die von Russland angegriffene Ukraine trotz des andauernden Krieges möglichst bald in das nordatlantische Militärbündnis aufzunehmen. Er sprach dabei ausdrücklich von einem Teilbeitritt. Demzufolge sollten die von Russland besetzten Gebiete im Süden und Osten der Ukraine zunächst außen vor gelassen werden. Dadurch, so Rasmussen, würde das Risiko eines offenen Konflikts zwischen Russland und der NATO gesenkt werden. Gleichzeitig würde ein teilweiser Beitritt "Russland von Angriffen auf ukrainisches Gebiet innerhalb der NATO abschrecken", erklärte der Däne weiter. Denn für dieses Gebiet würde dann Artikel 5 des NATO-Vertrags gelten, der den sogenannten Bündnisfall regelt. Konkret bedeutet das: Ein Angriff auf dieses Gebiet würde als Angriff auf alle NATO-Mitglieder gewertet werden. Das gesamte Bündnis wäre dann zu militärischem Beistand verpflichtet. Darüber hinaus betonte Rasmussen auch die politische Signalwirkung: Moskau müsse verstehen, dass die Ukraine nicht von einem Bündnisbeitritt abzuhalten sei.
BRD als Vorbild für teilweisen NATO-Beitritt
Als Vorbild für seinen Vorschlag nannte Rasmussen den NATO-Beitritt Deutschlands im Jahr 1955. Das Ende des Zweiten Weltkriegs lag damals erst zehn Jahre zurück, Deutschland war aufgeteilt in vier Zonen, die den alliierten Besatzungsmächten zugeordnet waren. Während die USA, Frankreich und Großbritannien die Bundesrepublik Deutschland (BRD) kontrollierten, unterlag die damalige DDR dem politischen Einfluss der Sowjetunion. Um die Westbindung der seit Kriegsende entmilitarisierten Bundesrepublik zu stärken, stimmten die Westmächte der Wiederbewaffnung der BRD zu und nahmen sie am 6. Mai 1955 schließlich offiziell in das Militärbündnis auf. Zentrale Bedingung hierfür war eine Erklärung der von Bundeskanzler Konrad Adenauer (CDU) geführten Bundesregierung, dass man auf jegliche gewaltsame Wiederherstellung der deutschen Einheit verzichten werde. Dieses Versprechen sollte dazu beitragen, das Risiko einer militärischen Eskalation zwischen der NATO und der Sowjetunion zu minimieren. Denn auch damals galt für alle Bündnispartner die Beistandsverpflichtung nach Artikel 5.
Als Reaktion auf die Aufnahme der Bundesrepublik in die NATO schlossen sich 1955 acht damalige Ostblockstaaten, darunter die Sowjetunion, die DDR und Polen, ihrerseits zu einem Militärbündnis zusammen. Dieser sogenannte Warschauer Pakt basierte auf einem ähnlichen Prinzip wie die NATO: Wird ein Mitglied angegriffen, gilt das als Angriff auf das gesamte Bündnis. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion wurde der Warschauer Pakt im Jahr 1991 aufgelöst.
Im Zuge der Wiedervereinigung am 3. Oktober 1990 wurde die ehemalige DDR Teil der Bundesrepublik Deutschland und somit auch in das NATO-Gebiet integriert. Zuvor hatte der damalige sowjetische Regierungschef Michail Gorbatschow seine Zustimmung gegeben, dass das vereinte Deutschland selbst entscheiden darf, welchem Bündnis es angehören wolle. Diese Vereinbarung ist im Zwei-plus-Vier-Vertrag festgeschrieben, der die formale Grundlage für die deutsche Einheit bildete.
NATO-Beitritt der Ukraine wird kontrovers diskutiert
Ob man der Ukraine – analog zum deutschen Modell – eine partielle NATO-Mitgliedschaft anbieten sollte, darüber wird unter Experten und Bündnispolitikern kontrovers diskutiert. Viele fürchten, die Militärallianz könnte direkt in den Krieg hineingezogen und die Beistandsverpflichtung nach Artikel 5 ausgelöst werden. Im Falle eines Teilbeitritts ukrainischer Gebiete hieße das z.B., dass alle Alliierten dem Land helfen müssten, wenn Russland etwa ein weiteres Mal die Hauptstadt Kiew angreifen sollte.
Bereits vor Rasmussens Äußerungen im "Guardian" hatte der SPD-Außenpolitiker Michael Roth im Juli 2023 für einen schnellen Beitritt der Ukraine geworben. In der "Zeit" forderte er, mit der NATO-Aufnahme der Ukraine nicht zu warten, bis die russischen Truppen sich komplett von ihrem Territorium zurückgezogen haben. "Ich würde einen perfekten Frieden nicht zur Bedingung einer Aufnahme machen", sagte Roth. "Diejenigen Teile der Ukraine, die unter zuverlässiger Kontrolle der demokratischen Kiewer Regierung stehen, sollten schnellstmöglich zum NATO-Gebiet gehören."
Kritik an dem Vorstoß kam umgehend aus der eigenen Partei. SPD-Außenpolitiker Ralf Stegner bezeichnete die Vorschläge als "leichtfertige Spekulationen". "Wir brauchen keine Alleingänge von Abgeordneten, sondern eine gemeinsame Politik mit unseren Verbündeten", sagte Stegner dem "Spiegel". "Der Wettbewerb um die radikalsten Forderungen wird eher Eskalationsgefahren verstärken als eine tragfähige Friedenslösung herbeiführen." Der SPD-Verteidigungsexperte Joe Weingarten nannte Roths Vorschlag sogar "ziemlichen Unsinn".
Simon Koschut, Professor für Internationale Sicherheitspolitik an der Zeppelin Universität in Friedrichshafen, bewertete den Vorstoß ambivalent: "Grundsätzlich ist es möglich und keine schlechte Lösung, wenn die Ukraine nur mit den von ihr kontrollierten Gebieten der NATO beitritt", sagte er dem Redaktionsnetzwerk Deutschland. Jedoch: "Dafür ist ein von beiden Seiten anerkannter Waffenstillstand oder ein Friedensvertrag notwendig und eine festgelegte Grenze." Wenn nur ein Teil der Ukraine der NATO beitrete, würde man faktisch das ukrainische Staatsgebiet aufteilen und dem Kreml signalisieren, dass man den Anspruch auf das übrige Territorium abgebe. Eine politische Eingliederung der von Russland besetzten Gebiete, wie die Wiedervereinigung in Deutschland, wäre dann später viel schwieriger, so der Experte.
Thomas Jäger, Professor für Internationale Politik und Außenpolitik an der Universität zu Köln, beschreibt den Vergleich mit dem NATO-Beitritt des geteilten Deutschlands als unzutreffend. "Anders als 1955 in Deutschland gibt es in der Ukraine keine klare Grenze, sondern eine sich ständig verschiebende Frontlinie", so Jäger gegenüber dem Redaktionsnetzwerk Deutschland. Auch er befürchtet, dass man die besetzten Gebiete durch einen teilweisen NATO-Beitritt zumindest indirekt als russisches Territorium legitimieren würde.
NATO-Generalsekretär: Ukraine sei dem Bündnis "so nah wie nie zuvor"
Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) hat mehrfach betont, dass ein Beitritt der Ukraine vor einem Ende des russischen Angriffskriegs für ihn nicht infrage kommt. Der neue NATO-Generalsekretär Mark Rutte erklärte kürzlich bei seinem Antrittsbesuch in Kiew: "Die Ukraine ist der NATO so nah wie nie zuvor. Sie wird auf diesem Weg weitergehen, bis sie die NATO-Mitgliedschaft sicher hat." Konkreter äußerte sich der Niederländer aber nicht.
Fazit: Der ehemalige NATO-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen schlug im November 2023 vor, den Teil der Ukraine, der nicht von Russland besetzt ist, in das Militärbündnis aufzunehmen. Für diesen Teil würde dann Artikel 5 des NATO-Vertrags gelten, der den sogenannten Bündnisfall regelt. Konkret bedeutet das: Ein Angriff auf dieses Gebiet würde als Angriff auf alle NATO-Mitglieder gewertet werden. Als Vorbild nannte Rasmussen den NATO-Beitritt der BRD im Jahr 1955. Manche Experten bewerten diesen Vergleich jedoch als unzutreffend, weil es in der Ukraine – anders als damals in Deutschland – keine klare Grenze gebe. Der neue NATO-Generalsekretär Mark Rutte erklärte kürzlich, die Ukraine sei der NATO "so nah wie nie zuvor", eine konkrete Absicht, den von Russland angegriffenen Staat zeitnah in das Bündnis aufzunehmen, äußerte er aber nicht.
Stand: 10.10.2024
Autor: Tim Berressem