Faktencheck zu "maischberger"

Sendung vom 13.11.2024

Faktencheck

Die Gäste (v.l.n.r.): Theo Koll, Kerstin Palzer, Michael Mittermeier, Jakob Augstein, Nikolaus Blome
Die Gäste (v.l.n.r.): Theo Koll, Kerstin Palzer, Michael Mittermeier, Jakob Augstein, Nikolaus Blome | Bild: WDR / Oliver Ziebe

Bei Maischberger wird engagiert diskutiert, Argumente werden ausgetauscht, es wird auch schon mal emotional und manchmal bleibt am Ende keine Zeit, um alles zu klären. Wenn Fragen offen bleiben, Aussagen nicht eindeutig waren oder einfach weitere Informationen hilfreich sein könnten, schauen wir nach der Sendung noch einmal drauf – hier in unserem Faktencheck.

Und das schauen wir uns an:

  • Was forderte Christian Lindner in seinem "Wirtschaftswende"-Papier?

Was forderte Christian Lindner in seinem "Wirtschaftswende"-Papier?

Der ehemalige Finanzminister Christian Lindner (FDP) äußerte sich in der Sendung zu seinem "Wirtschaftswende"-Papier, das in den Augen vieler Beobachter zum Bruch der Ampel-Koalition beigetragen habe. Lindner sagte in der Sendung, es habe sich dabei lediglich um Vorschläge für einen wirtschaftlichen Aufschwung in Deutschland gehandelt. Was genau in dem Papier steht und wie die Reaktionen darauf ausfielen, schauen wir uns hier noch einmal näher an. 

Umstrittene Forderungen: Was steht in Christian Lindners "Wirtschaftswende"-Papier? | Video verfügbar bis 13.11.2025

Maischberger: "Die Bürger haben schon auch das Gefühl – zumindest ein Teil von ihnen – gehabt, dass die FDP beziehungsweise auch Sie dann doch an der Schraube ziemlich häufig gezogen haben. Zuletzt eben dieses sogenannte 'Scheidungspapier', 18 Seiten, in denen Sie – nachdem Sie schon vom 'Herbst der Entscheidungen' gesprochen hatten, vom 'Mut ins Risiko zu gehen' – im Prinzip gesagt haben, die SPD soll auf ihre Sozialprojekte verzichten und bei den Grünen verschieben wir den Klimaschutz. Das sind Bedingungen gewesen, von denen Sie wussten, dass die nicht in die Tat umgesetzt werden können oder einfach eine Provokation waren."

Lindner: "Aber das ist doch kein Diktat gewesen."

Maischberger: "Nein, aber Sie haben Bedingungen gestellt und gesagt, so wird es von den anderen kolportiert, das machen wir jetzt, und wenn wir das nicht machen, sind wir nicht mehr zu anderem bereit."

Lindner: "Nein, das ist ganz falsch."

Maischberger: "Ganz falsch."

Lindner: "Ja. Das ist kein Diktat, sondern es waren Vorschläge. Wir haben eine wirtschaftliche Stagnation. Zehntausende Arbeitsplätze gehen in Deutschland verloren. Es drohen möglicherweise nicht mehr rückgängig zu machende Strukturbrüche, weil Produktion oder Forschung ins Ausland verlagert wird. Wir sind die einzige entwickelte Volkswirtschaft, die nicht mehr wächst. Und in einer solchen Situation, da erlaube ich mir schon, Vorschläge zu machen, wie man das Blatt für unser Land wenden kann, wie man Arbeitsplätze sicher machen kann, wie man dafür sorgen kann, dass dieser Staat durch eine starke wirtschaftliche Substanz auch handlungsfähig bleibt."

Maischberger: "Maximalforderungen? Können wir uns darauf einigen?"

Lindner: "Nein. Meine Vorschläge. Und dann sind andere ja eingeladen, ihre Vorschläge zu unterbreiten, was sie tun wollen. Aber was angesichts der Sorgen von Millionen Menschen um ihren Job und die wirtschaftliche Zukunft des Landes nicht geht, das ist nichts tun."

Hintergrund: Was forderte Christian Lindner in seinem "Wirtschaftswende"-Papier?

Unter dem Titel "Wirtschaftswende Deutschland – Konzept für Wachstum und Generationengerechtigkeit" formulierte Christian Lindner – noch in seiner Funktion als Bundesfinanzminister – zahlreiche Maßnahmen, die zum wirtschaftlichen Aufschwung der Bundesrepublik beitragen sollten. Das 18-seitige Papier wurde am 1.11.2024 öffentlich, als zahlreiche Medien über Lindners Pläne für eine "teilweise grundlegende Revision politischer Leitentscheidungen" der Ampel-Koalition berichteten. In der medialen Berichterstattung war häufig von einem "Scheidungspapier" die Rede. Lindner erklärte darauf hin, dass sein Konzept zunächst nicht für die Öffentlichkeit gedacht gewesen sei. Es habe "nur im engsten Kreis der Bundesregierung" beraten werden sollen, hieß es in einem Schreiben des FDP-Chefs an Parteikollegen. Der Text sei "durch eine Indiskretion anderswo" öffentlich geworden.

Inhaltlich stellt Lindner darin die Wirtschafts- und Finanzpolitik der Ampelkoalition infrage. Probleme wie ein Investitionsstau, geringe Produktivität und die Schwierigkeiten beim Klimaschutz seien zum Teil "vorsätzlich herbeigeführt" worden, schreibt Lindner. Deshalb sei "eine Wirtschaftswende mit einer teilweise grundlegenden Revision politischer Leitentscheidungen erforderlich, um Schaden vom Standort Deutschland abzuwenden."

Klares Bekenntnis zur Schuldenbremse

Im Einzelnen pocht Lindner dabei auf deutliche Einsparungen im Bundeshaushalt 2025 und wendet sich gegen eine Politik, die Ausnahmen von der Schuldenbremse zulässt oder hohe Industriesubventionen zahlt. Auch die Einrichtung großer neuer Sondervermögen lehnt er ab. Einsparungspotenzial sieht Lindner z.B. beim Thema Rente. Durch einen flexibel gestalteten Renteneintritt könnten laut seinem Konzept 4,5 Milliarden Euro jährlich eingespart werden. Zudem schlägt er die Auflösung des Klima- und Transformationsfonds (KTF) vor, was insofern ein brisanter Vorschlag ist, als dass der Aufbau des KTF im Ampel-Koalitionsvertrag von 2021 festgeschrieben ist. Auch die geplanten Subventionen für die Intel-Chipfabrik in Magdeburg sollen gestrichen werden.

Lindner will Klimaziele verschieben

Auch erneuert Lindner seine Kritik am Bürgergeld. Man müsse den Zustand abschaffen, dass das Zusammenspiel staatlicher Leistungen dazu führe, dass die Aufnahme oder die Ausweitung von Arbeit nicht mehr lohne. "Individuelle Schlechterstellungen gegenüber dem Status quo sind dabei unvermeidlich, aber im Sinne von Aktivierung und Anreizorientierung auch zu begrüßen", heißt es im Papier.  Doch auch das Bürgergeld ist ausdrücklich Teil des Koalitionsvertrags.

Besonders umstritten ist Lindners Forderung, die Klimaschutzziele der Bundesrepublik zu verschieben. Klimaneutralität solle demnach nicht mehr 2045, sondern wie in der EU 2050 anvisiert werden. Somit könnten auch die Ziele im Gebäudeenergiegesetz, wann Heizungen vollständig klimaneutral sein müssen, um fünf Jahre nach hinten verschoben werden. "Klimapolitisch motivierte Dauersubventionen" sollten dem Konzept nach vollständig abgeschafft werden. Eine Verschiebung der Klimaschutzziele wäre jedoch weder mit dem Koalitionsvertrag noch mit dem Klimaschutzgesetz vereinbar

Steuersenkungen vor allem für Unternehmen und Selbstständige

Beim Thema Steuern setzt sich Lindner für deutliche Senkungen ein. So soll der Solidaritätszuschlag im Jahr 2025 zunächst gemindert und bis 2027 vollständig abgeschafft werden. Davon würden vor allem Unternehmen, Selbstständige und Freiberufler profitieren. Parallel sollte laut Lindners Vorschlag die Körperschaftsteuer im kommenden Jahr um zwei Prozentpunkte reduziert und 2027 und 2029 in weiteren Schritten gesenkt werden. Die Unternehmensteuern sollen von derzeit knapp 30 Prozent auf 25 Prozent sinken. Lindner will zudem die Abmilderung der sogenannten kalten Progression in der Einkommensteuer nach 2026 verstetigen. Ziel einer solchen Maßnahme wäre es, dass inflationsbedingte Einkommenssteigerungen nicht zwangsläufig zu höheren Steuerzahlungen führen. Außerdem fordert er die Anhebung der Grund- und Kinderfreibeträge sowie des Kindergelds.

Um Unternehmen in Sachen Bürokratie zu entlasten, fordert Lindner außerdem ein striktes Regulierungsmoratorium. Konkret bedeutet das: In den kommenden drei Jahren soll es nach Lindners Vorstellungen keine neuen Gesetze geben, die zu einer bürokratischen Mehrbelastung für Unternehmer führen würden. Als problematisch bewertet der FDP-Chef ausdrücklich das Tariftreuegesetz und das Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz. Auf EU-Ebene sollte die Bundesregierung helfen, Berichts- und Nachweispflichten aus dem sogenannten Green Deal abzubauen und neue zu verhindern.

Wirtschaftsvertreter loben das Konzept

Vertreter der Wirtschaft halten einige Vorschläge von Lindner für sinnvoll. So sagte Gesamtmetall-Chef Stefan Wolf, dass die FDP angesichts der wirtschaftlichen Lage in Deutschland "sehr gute Vorschläge gemacht" habe. Es brauche einen Befreiungsschlag mit großen, ambitionierten Maßnahmen, so Wolf gegenüber "Bild". Auch Clemens Fuest, Präsident des Wirtschaftsinstituts ifo, hebt einzelne Punkte des Wirtschaftspapiers positiv hervor – darunter die oben beschriebenen Vorstöße für den Bürokratieabbau. Auch Einsparungen bei der Klimaschutzförderung begrüßten einige Ökonomen. Es sei "längst überfällig", die Subventionen für Erneuerbare Energien zu streichen, sagte Manuel Frondel vom Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung gegenüber dem "Tagesspiegel". Deutschlands Klimapolitik müsse zwingend kosteneffizienter werden, um den Strompreis zu senken und somit die Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft wieder herzustellen.

Doch es gibt auch kritische Stimmen. "Was Christian Lindner in der Klimapolitik vorschlägt, ist völlig falsch und höchst schädlich", sagte DIW-Chef Marcel Fratzscher dem "Tagesspiegel".

Kritik von SPD und Grünen: "Neoliberale Phrasendrescherei"

Kritik kam indessen vor allem von SPD und Grünen. "Wir brauchen jetzt keine Papiere, sondern gemeinsames Handeln, um der Industrie schnell zu helfen und Sicherheit zu geben. Vor allem brauchen wir keine Opposition in der Regierung", sagte der arbeitsmarkt- und sozialpolitische Sprecher der SPD-Fraktion, Martin Rosemann, dem "Tagesspiegel". Der SPD-Abgeordnete Nils Schmid bezeichnete Lindners Papier als "inhaltlich sehr allgemein". Wo es konkreter werde, sei es "nicht vereinbar mit dem Koalitionsvertrag". Schmid bezeichnete das Konzept insgesamt als "neoliberale Phrasendrescherei". Ähnlich deutlich äußerte sich der Vize-Fraktionschef der Grünen im Bundestag, Andreas Audretsch: "Das Papier ist eine Nebelkerze. Wichtiger wäre es, dass sich der Finanzminister um den Haushalt kümmert." Der Parlamentarische Geschäftsführer der Union im Bundestag, Thorsten Frei, bezeichnete das Papier als "ultimative Scheidungsurkunde" für die Ampel-Koalition.

Wenige Tage nach Veröffentlichung des Papiers, am 6.11.2024, brach die Koalition auseinander. Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) entließ Christian Lindner aus dem Ministeramt und kündigte Neuwahlen an. Sämtliche FDP-Minister zogen sich aus dem Kabinett zurück. Lindners "Wirtschaftswende"-Konzept, das innerhalb der Ampel für heftige Diskussionen sorgte, gilt als ein wesentlicher Grund für den Koalitionsbruch. 

Fazit: Unter dem Titel "Wirtschaftswende Deutschland" formulierte Christian Lindner zahlreiche Maßnahmen, die zum wirtschaftlichen Aufschwung der Bundesrepublik beitragen sollten. In dem Konzept fordert er eine strikte Einhaltung der Schuldenbremse sowie deutliche Einsparungen im Bundeshaushalt. Um das zu erreichen, will der FDP-Chef nicht nur klimapolitische Subventionen streichen, sondern auch die Klimaziele der Bundesrepublik um fünf Jahre verschieben. Zudem macht er sich für die Entlastung von Unternehmen stark, sowohl steuerlich als auch beim Thema Bürokratie. Lindners Papier, das in einigen Punkten dem Koalitionsvertrag der Ampel widerspricht, löste heftige Diskussionen aus. Viele Wirtschaftsvertreter lobten den Vorstoß, während vor allem SPD und Grüne das Konzept kritisierten. So gilt das Papier in den Augen vieler Beobachter als ein wesentlicher Grund für den Bruch der Regierungskoalition. 

Stand: 14.11.2024

Autor: Tim Berressem