So., 25.02.24 | 23:35 Uhr
Das Erste
Denis Scheck kommentiert die Top Ten Belletristik
Platz 10) Bernhard Schlink: "Das späte Leben"
Was macht ein 76-jähriger Rechtshistoriker, der mit einer viele Jahrzehnte jüngeren Frau ein Kind in die Welt gesetzt hat, das noch in den Kindergarten geht, wenn er die Diagnose Bauchspeicheldrüsenkrebs erhält und nur noch ein halbes Jahr zu leben hat? Bernhard Schlinks schmucklose Prosa ringt diesem Stoff ein unsentimentales Buch ab über das, was wirklich wichtig ist im Leben.
Platz 9) Nele Neuhaus: "Monster"
Ein uninspirierter, aber bodenständig-unterhaltsamer Serienkrimi über den Mord an einer 16-Jährigen. Für derartige literarische Konfektionsware ist mir mein Leben zu kurz.
Platz 8) Ildikó von Kürthy: "Eine halbe Ewigkeit"
Dieser im "Hallöchen-Popöchen"-Stil verfasste Roman beginnt an einem Altpapiercontainer. Dort hätte er auch enden sollen, denn die selbstmitleidige Larmoyanz der Protagonistin wird nur noch von der Schrägheit der Bilder übertroffen, Zitat: "Die Abschiede stehen Schlange, geben sich die Klinke in die Hand."
Platz 7) Bonnie Garmus: "Eine Frage der Chemie"
An diesem mit Elementen der Screwball Comedy schön überdrehten feministischen Unterhaltungsroman lässt sich eine Menge über den Zeitgeist unserer Gegenwart ablesen: zum Beispiel unsere an Besessenheit grenzende Sucht, auch noch die jüngste Vergangenheit nach den moralischen Standards der Gegenwart zu be- und verurteilen.
Platz 6) Sebastian Fitzek: "Die Einladung"
Der katholische Priester Ronald Knox stellte schon 1929 Zehn Gebote für den Kriminalroman auf. Das letzte davon lautet. "Du sollst keine Zwillingsbrüder und Doppelgänger auftreten lassen, es sei denn, sie werden ordentlich in die Handlung eingeführt." Nicht nur in dieser Hinsicht ist Fitzeks wirre und grotesk unmotivierte Thrillerversion von "Das dopppelte Lottchen" gotteslästerlich schlecht.
Platz 5) Ursula Poznanski: "Die Burg"
Ein Milliardär lässt eine mittelalterliche Burg in den ultimativen KI-gesteuerten Escape-Room umbauen. Nur hat die KI namens KIsmet gar kein Interesse daran, jemand entkommen zu lassen … Ursula Poznanski lotet auch in ihrem jüngsten Roman intelligent und spannend die Grenzen zwischen Virtualität und Wirklichkeit aus.
Platz 4) Karsten Dusse: "Achtsam morden durch bewusste Ernährung"
Der Anwalt Björn Diemel hat seinen Mandanten, einen Unterweltboss, ermordet und sich an dessen Stelle gesetzt: dies der Ausgangspunkt dieses gewitzten, von Rilkes "Panther"-Gedicht inspirierten Serienkrimis, in dem Diemel gegen überflüssige Pfunde und die Entführer seines Kindes kämpft.
Platz 3) Bodo Kirchhoff: "Seit er sein Leben mit einem Tier teilt …"
Ein alternder Hollywoodschauspieler nimmt am Gardasee erst Abschied von seiner Libido und dann von seinem Hund; eine junge Reisebloggerin, deren Mutter und eine Journalistin leisten ihm dabei Gesellschaft. Ein kurioses Buch, dessen kluge Gedanken übers Kino und schöne Naturschilderungen es vor dem Abrutschen in Kitsch bewahren.
Platz 2) Iris Wolff: "Lichtungen"
"Die Auswanderung war unausweichlich. Wie eine Sucht. Jeder fürchtete, der Letzte zu sein", schreibt Iris Wolff in ihrem in wunderbar dichter Sprache überaus kunstvoll rückwärts, also chronologisch in die Vergangenheit erzählten Roman über Siebenbürgen. "Lichtungen" handelt von gebrochenen Herzen, zerbrochenen nationalen Identitäten und Zugehörigkeit als Entscheidung. "Lichtungen" ist ein literarisches Ereignis.
Platz 1) Haruki Murakami: "Die Stadt und ihre ungewisse Mauer"
Murakami erzählt von einer Teenagerliebe – und vom Doppelleben im Hier und Jetzt und einer Gegenwelt, eben der titelgebenden Stadt mit der ungewissen Mauer, deren Bewohner keine Schatten werfen und deren Uhrturm ein Zifferblatt ohne Zeiger aufweist. Seit E.T.A. Hoffmann hat niemand mehr so bezwingend und kunstvoll das Geheimnis der Poesie offenbart, die uns Leserinnen und Leser ein glückliches Doppelleben ermöglicht.
Stand: 16.03.2024 15:29 Uhr
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