So., 28.03.21 | 23:35 Uhr
Das Erste
Denis Scheck kommentiert die Top Ten Sachbuch
Platz 10 | Julian Barnes: "Der Mann im roten Rock"
In der geistigen Ödnis einer Bestsellerliste stößt man mitunter auf wundersame Oasen des Leseglücks: Dieser Zwitter zwischen Biographie und Roman ist so eine. Am Beispiel einer Stippvisite dreier Männer aus Paris im London des Jahres 1885 entwickelt Julian Barnes ein flammendes Plädoyer für Europa – und erzählt wie nebenbei vom Glanz und Glück der Belle Epoque, von Liebe, Tod und dem Sinn des Lebens. Ich verneige mich.
Platz 9 | Dan Morain: "Kamala Harris"
Das Beispiel für die Tonlage, Tiefe und intellektuelle Penetranz dieses Buches findet sich bereits auf Seite eins: "Es ist vielleicht kein Zufall, dass sich ihre Geburt nur zwei Wochen vor dem Wahltag ereignete und dass sie in Kalifornien stattfand." So ist es denn vielleicht auch kein Zufall, dass mein Verriss dieser verquatschten, unfokussierten Biographie am Vollmond vor Ostern stattfindet. Dieses Buch ist eine aus den schlimmsten Klischees intellektueller Trägheit zusammengerührte Heiligenlegende.
Platz 8 | Monika Gruber und Andreas Hock – "Und erlöse uns von den Blöden"
Sehr viele lahme anti-intellektuelle Witze und ein Lob auf den deutschen Bauernstand: ein unnötiges Buch.
Platz 7 | Gerald Hüther: "Lieblosigkeit macht krank"
Ganz besonders krank macht lieblos heruntergerotzte Sachbuchprosa. "Lieblosigkeit" als Ursache der Pest im Mittelalter zu diagnostizieren, ist schon ziemlich edgy. Doch Hüther geht noch einen Schritt weiter, indem er schreibt: "Erst jetzt, angesichts der wachsenden Probleme auf der Welt, wird offenbar, dass wir mit Hilfe unseres nackten Verstandes nicht nur viele Probleme lösen, sondern auch sehr viele, bisher nicht dagewesene Probleme erzeugen können." Gerald Hüther ist der Peter Hahne der Hirnforschung.
Platz 6 | Bill Gates: "Wie wir die Klimakatastrophe verhindern"
Mit welch Jules-Verne-hafter Technikbegeisterung sich die beste Strategie gegen den Klimawandel auch diskutieren lässt, muss hierzulande verblüffen. Auch, dass sich Bill Gates als Fan von David Foster Wallace und der Atomkraft outet. Immerhin besitzt Gates die Fähigkeit zur Selbstironie, wenn er schreibt: "Die Welt leidet nicht gerade unter einem Mangel an reichen Männern, die große Ideen haben für das, was andere Leute tun sollten, oder die glauben, dass jedes Problem durch Technologie gelöst werden könne." Tatsächlich aber hat sein ideenreiches Buch gerade durch seine Beschreibungen von Zukunftstechnologien, die den CO2-Ausstoß reduzieren helfen, einen lange vermissten "sense of wonder" in mir ausgelöst. Gerade im oft so technikfeindlichen Deutschland eine notwendige Lektüre.
Platz 5 | Kamala Harris: "Der Wahrheit verpflichtet"
Babyküssende Politiker im Wahlkampf sind ein Klischee. Wie dreist jedoch Kamela Harris Kinder in ihrer Autobiographie instrumentalisiert, schlägt dem Fass den Boden aus. "Irgendwann kam mein neunjähriges Patenkind Alexander mit dicken Tränen in den Augen zu mir", schreibt Harris über den Abend der Wahl von Donald Trump zum Präsidenten. "'Komm her, kleiner Mann. Was ist denn los?'" Alexander blickte mich an. Seine Stimme zitterte.. "'Tante Kamala, der Mann darf nicht gewinnen. Er gewinnt doch nicht, oder?'" Es brach mir fast das Herz." Mir bricht auch das Herz, dass eine kluge Frau wie Kamala Harris, ein Symbol meiner politischen Hoffnung, eine Autobiographie schreibt, die so populistisch und flach ist. Ein typisches Politikerbuch eben.
Platz 4 | Isabel Allende: "Was wir Frauen wollen"
Hinter dem zu vollmundigen Titel verbirgt sich ein durchaus kurzweiliger autobiographsicher Anekdotenreigen, zusammengehalten vom Feminismus der Autorin. "Und worin besteht nun mein Feminismus?", fragt Isabell Allende. "Dass es nicht darauf ankommt, was wir zwischen den Beinen, sondern was wir zwischen den Ohren haben." Gut gesagt.
Platz 3 | Barack Obama: "Ein verheißenes Land"
Seit Winston Churchill hat kein Politiker reflektierter über Realpolitik geschrieben. Ein Ausnahmebuch.
Platz 2 | Sophie Passmann: "Komplett Gänsehaut"
Man kann diesen Generationen-Befindlichkeits-Essay für larmoyant und befangen in schwer aushaltbarer adoleszenter Nabelkreiserei halten. Aber mitten in der Lektüre fällt einem ein: doch, so war das – so von Unsicherheit befangen, so von Meinungsfuror getrieben und so von Peinlichkeitsangst gequält warst auch Du einmal. Ein abenteuerlicher Ausflug auf den Planeten Jugend.
Platz 1 | Mai Thi Nguyen-Kim: "Die kleinste gemeinsame Wirklichkeit"
Sollen Drogen legalisiert werden? Führen Killerspiele zu mehr Gewalt? Sind Tierversuche ethisch legitim? Trotz einiger albernen Flapsigkeiten und unnötigen Anwanzereien an vermeintliche Jugendsprache im Stil habe ich diese Sichtung von acht Problemfeldern aus evidenzgestützter wissenschaftlicher Perspektive mit großem Gewinn gelesen.
Stand: 28.03.2021 23:35 Uhr
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