So., 29.09.24 | 23:05 Uhr
Das Erste
"Israel, 7. Oktober. Protokoll eines Anschlags"
Lee Yarons erschütterndes Buch über das Massaker der Hamas
Das Gelände des Nova-Festivals im Süden Israels. Am 7. Oktober 2023 wurde es zum Schauplatz einer brutalen Mord- und Entführungsorgie, verübt von der Hamas. 365 junge Menschen wurden ermordet, hunderte verletzt.
Michal Ohana überlebte nur knapp. Sie wurde angeschossen und schaffte es, sich unter einem Panzer zu verstecken, bis sie nach mehreren Stunden gerettet wurde:
"Ich habe hier Szenen gesehen, an die ich mich nicht erinnern will, aber ich bekomme sie nicht aus dem Kopf. Ich bin zum ersten Mal hierher gekommen, als ich aus dem Krankenhaus entlassen wurde. Das war im Winter. Und das Einzige, an das ich mich erinnern konnte, waren diese schrecklichen Bilder: Brände, Rauch und Leichen, auf dem Boden verbrannt, überall war dieser Geruch von Blut. Und jetzt sieht es fast unschuldig hier aus", so beschreibt sie die Folgen ihres Traumas.
Es bestimmt auch ein Jahr danach noch ihren Alltag: "Bevor ich schlafen gehe, denke ich als letztes an die Geiseln. Es gibt keine Nacht, in der ich nicht mit diesen Bildern schlafen gehe und mit ihnen wieder aufwache. Denn eines dieser Opfer hätte ich sein können."
Protokoll eines Massakers und Buch der Trauer
Israel befindet sich seit dem 7. Oktober in einer Schockstarre, sagt die Journalistin Lee Yaron. "Die Leute trauern noch immer. Sie warten auf die Geiseln. Ich denke, Israel wird lange, sehr lange brauchen, um aus dieser endlosen Trauerzeit herauszukommen."
Yaron schreibt für die linksliberale Zeitung "Haaretz". Jetzt erschien ihr Buch zum 7. Oktober 2023, ein erschütternder Tatsachenbericht auf der Grundlage hunderter Interviews, die sie mit Überlebenden und Familienangehörigen führte. Zudem wertete sie Chats aus, letzte Anrufe der Opfer, geführt manchmal nur Sekunden vor deren Tod. Entstanden ist so ein ergreifendes Totenbuch, ein Buch der Trauer und gleichzeitig der Erinnerung.
In New York stellte sie ihr Protokoll des Massakers bei einer Lesung vor: "Dieses Buch zu schreiben war äußerst schmerzhaft für mich, auch die Gespräche mit den vielen Familien. Aber es hat mir auch Kraft gegeben und eine Mission. Es hat mich in vielerlei Hinsicht vor Depressionen bewahrt, weil ich damit zur Stimme all dieser Menschen wurde, die zum Schweigen gebracht wurden."
Mehr als 240 entführte Geiseln und eine spektakuläre Befreiung
Über 240 Geiseln wurden entführt. Eine der Hamas-Aufnahmen, die um die Welt gingen, zeigt das Kidnapping von Noa Argamani, die um Hilfe fleht, als sie in den Gaza-Streifen verschleppt wird. Auch ihr Freund wird damals entführt, sein Schicksal ist weiter ungewiss.
In ihrer Geiselhaft kämpft Noa Argamani sehr emotional für ihre Freilassung in Botschaften, die die Hamas verbreitet, um Israel unter Druck zu setzen. Das ganze Land nimmt Anteil, zumal ihre Mutter schwer an Krebs erkrankt ist.
Der mediale Druck dieser Geschichte wird zur Kampagne, die auch die Regierung Netanyahus nicht mehr ignorieren kann. Medienwirksam verspricht er der Mutter, ihr die Tochter zurückzubringen. Ein 40 Mann starkes Eliteteam findet tatsächlich ihr Versteck, befreit sie und drei weitere Geiseln nach 246 Tagen Haft aus den Fängen der Hamas. Die Bilder ihrer Rückkehr werden weltweit geteilt. Die Befreiung ist ein emotional befreiender Moment nach Monaten des Stillstandes. Argamanis Mutter stirbt drei Wochen nach dem Wiedersehen mit ihrer Tochter.
Für die Regierung Netanyahu ist die erfolgreiche militärische Operation der Beweis, dass man Geiseln befreien kann, ohne mit der Hamas zu verhandeln.
Die Geisel selbst ist nun ein Medienstar, den Regierungschef begleitet sie aus Dankbarkeit bis in den US-Kongress.
"Wir haben einen Vertrag, niemanden zurückzulassen!"
Lee Yaron sieht in der Befreiung der Geiseln eine Art Schicksalsfrage, die an die Grundfesten des Staates rührt: "In Israel haben wir einen Vertrag mit unserer Gesellschaft, der besagt, dass wir niemanden, der entführt wird, zurücklassen. Dieser Vertrag erleichtert es den Eltern, ihre Kinder zur Armee zu schicken. Aber ich frage mich jetzt, ob wir diese Vereinbarung vergessen haben – und was bleibt von dieser israelischen Identität.
Kibbuz Nahal Oz: "Glauben an Frieden und Koexistenz verloren"
Überfallen wurde auch der Kibbuz Nahal Oz in der Nähe von Gaza. Die Familie von Adi und Oren Cherry fühlte sich dort trotz häufiger Raketenangriffe aus Gaza sicher – in einer "glücklichen, eingeschworenen Gemeinschaft", die an den Frieden mit den Palästinensern glaubte: "Einwohner aus Gaza haben bei uns gearbeitet. Wir glaubten tatsächlich an Koexistenz. Es war ein sehr guter Ort zu leben", sagt Adi Cherry.
Bis zum 7. Oktober 2024, als die Menschen im Kibbuz von einem Raketenangriff geweckt werden. Eigentlich Normalität, doch diesmal ist es anders. Hamas-Terroristen stürmen den Kibbuz. "Und dann hörten wir draußen die Rufe auf Arabisch: 'Schlachtet die Juden, Gott ist groß'", erinnert sie sich. In letzter Minute kann sie sich mit ihrer Familie in den Safe-Room des Hauses retten, der sie sonst vor den Raketenangriffen schützt.
Den Glauben an Frieden und Koexistenz hat sie verloren: "Nachdem ich sie in meinem Haus gehört habe, wie sie gefeiert und laut geschrien haben: 'Tötet die Juden!', glaube ich nicht mehr daran, dass wir Frieden haben können. Zumindest nicht mehr in unserer Generation."
Lee Yaron: Krieg ist keine Lösung
Berichte, Schicksale wie diese versammelt Lee Yarons Buch. Stellenweise furchtbar und bitter zu lesen, ist es jedoch auch ein Buch der Hoffnung, dass den Exzessen der Gewalt eine bessere Zukunft folgen muss.
"Meine ersten Erinnerungen begannen mit der Intifada, als Busse neben mir explodierten. Aber ich will daran glauben, dass ich meinen Kindern eine bessere Zukunft bieten kann. Ich denke, dass gerade meine Generation genau dafür kämpft und ich teile nicht die Überzeugung, dass wir nur durch Krieg geschützt werden können."
Das Massaker vom 7. Oktober 2023 gilt in Israel als das größte Pogrom seit dem Holocaust. Die Trauer, die Wut, der Hass werden lange bleiben. Auch mit unabsehbaren Folgen für die unschuldigen Opfern auf der anderen Seite der Grenze.
Autor TV-Beitrag:
Matthias Morgenthaler
Stand: 30.09.2024 16:59 Uhr
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