So., 26.01.25 | 23:05 Uhr
Das Erste
Das vergessene Opfer
Der Fall Pelicot aus der Perspektive der Tochter
Seit dem Prozess im französischen Avignon gilt Gisèle Pelicot als Ikone im Kampf gegen sexuellen Missbrauch. Ganz bewusst hatte sie sich entschieden, an die Öffentlichkeit zu gehen mit der Verhandlung gegen ihren früheren Mann, der sie betäubt, vergewaltigt und anderen Männern zugeführt hatte. Doch das Verbrechen hat noch andere Opfer: Die Kinder und Enkelkinder von Gisèle und Dominique Pelicot. In ihrem Buch "Und ich werde Dich nie wieder Papa nennen" erzählt die Tochter Caroline Darian ebenso einfühlsam wie schonungslos aus der Perspektive der Tochter, wie ihr Leben ins Wanken geriet und sie zur Tochter eines Verbrechers wurde, wie systemischer Missbrauch und Vergewaltigung funktionieren und was das in Familien anrichtet. ttt hat Caroline Darian zum exklusiven Fernsehinterview in Paris getroffen.
Der Tag, der alles veränderte
"Als mich meine Mutter abends anrief und sagte, was die Polizei gezeigt hatte: Fotos, auf denen sie bewusstlos da lag - und unbekannte Männer sie vergewaltigten. Das war für mich, als ob ich in einen Tsunami gerate", erinnert sich Caroline Darian an den 2. November 2020, der Tag, der alles veränderte. Caroline Darian ist die Tochter des Opfers. Und sie ist die Tochter des Täters. Vier Wochen nach der Verurteilung ihres Vaters Dominique Pelicot sagt sie: "Wenn ich jetzt zurückschaue, erkenne ich, dass er immer schon ein sexuell Perverser war. Heute habe ich keinen Vater mehr. Der Mann, der mich aufgezogen hat, ist ein Raubtier, einer der größten Sexualverbrecher der letzten zwei, drei Jahrzehnte!"
Ein Buch als Therapie
Der Avignon-Prozess machte ihre Mutter Gisèle Pelicot zur weltweiten Ikone: indem sie die Videos des Täters Dominique Pelicot öffentlich zeigen ließ. Doch wie es im Innersten der Familie zuging, als der "Tsunami" vor vier Jahren über sie hereinbrach – und welche Verwüstungen er hinterlassen hat – davon erzählt Caroline Darian in ihrem Buch "Und ich werde dich nie wieder Papa nennen". Sie musste es schreiben, sagt sie, "Über das, was mir in meiner Kindheit und als erwachsene Frau widerfahren ist. Über die Beziehung zu meinem Vater. Und um das Ganze auf Distanz zu bekommen. In meiner Not war das eine Art Therapie."
Chemische Unterwerfung
In Tagebuch-Form erzählt Darian von der Scham, diesen Vater einmal geliebt zu haben. Und von der Manipulation durch einen Mann, der den Drang hat, Frauen zu dominieren. "Er hat uns immer seine 'A-Seite' vorgespielt", sagt sie, "der gute Papa und Ehemann, der nette Nachbar und Arbeitskollege. Aber er hatte immer diese 'B-Seite', die war so dunkel. Die hat er uns immer verheimlicht." Caroline und ihre zwei Brüder leben längst nicht mehr bei den Eltern, als der Vater die Mutter, Gisèle Pelicot, über Jahre mit Medikamenten betäubt: „Chemische Unterwerfung“: sie wird bewusst- und wehrlos von ihm und über 80 fremden Männern vergewaltigt.
Fotos von Caroline Darian
Auch von Tochter Caroline tauchen auf dem Computer des Täters belastende Fotos auf. Ein Schock, als sie sie zum ersten Mal sieht: "Man geht als Vater doch nicht einfach in das Schlafzimmer der erwachsenen Tochter und macht SOLCHE Fotos! Das ist nicht normal. Ich habe einen leichten Schlaf, davon wäre ich aufgewacht. Ich bin mir sicher, dass er auch mich sediert hatte", sagt sie. Die Fotos zeigen die erwachsene Caroline halb nackt, in fremden Dessous. In einer Position, in der sie nie schlafe. Was hat er ihr noch angetan? Diese Frage quält sie. Darian hat psychische Zusammenbrüche.
Beziehung zwischen Mutter und Tochter
Den Inzestverdacht der Tochter will Gisèle Pelicot nicht wahrhaben. "Dein Vater", zitiert Darian sie, "kann so etwas nicht getan haben. Es würde mich endgültig zerstören." Und sie ergänzt: "Sie war wie versteinert. Für sie: darf das nicht geschehen sein. In diesem Moment habe ich mich komplett als Waise gefühlt. Meinen Vater hatte ich schon verloren. Aber er hat mir eben auch einen Teil der Beziehung zu meiner Mutter geraubt: sie war nicht in der Lage mich zu beschützen." Darian beschreibt ihre Mutter als eine "wahre Heldin, aufrecht in Ruinen stehend". Eine Frau im Überlebensmodus. Ihrer Tochter hat sie keinen Glauben geschenkt. Das schmerzt. Caroline Darian analysiert: "Das ist so wichtig zu verstehen. Sexueller Missbrauch ist ein systemisches Verbrechen. Was einem Menschen in der Familie passiert, führt zu enormen Kollateralschäden. Die ganze Familie wird beschädigt. Vor allem, wenn es Kinder gibt. Und Inzest beschränkt sich nicht auf junge Kinder."
Unterstützung für andere Opfer
Darian hat einen Verein für Opfer "Chemischer Unterwerfung" gegründet, damit betroffene Frauen schneller toxikologisch getestet werden. Im Fall ihrer Mutter war die Beweislage durch das Videomaterial eindeutig. Sie aber muss damit leben, den Missbrauch nicht beweisen zu können. "Was ich immer noch erlebe, ist, als Opfer nicht genügend anerkannt zu werden", berichtet Darian, "aber ich bin kein Einzelfall, vielen anderen Opfern geht es genauso. So liegt es mir am Herzen, mich für andere einzusetzen, um etwas zu ändern." Darian geht nach vorn. Vor Gericht verabschiedete sie sich von dem Mann, den sie nie wieder "Papa" nennen wird: "Ich sagte ihm: 'Du wirst mit Deinen Lügen hinter Gittern sterben. Allein, wie ein Hund!' Und dass ich nie wieder mit ihm sprechen werde. Jetzt weiß ich, wer er ist!"
Autorin: Brigitte Kleine
Stand: 26.01.2025 17:54 Uhr
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