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Minderheit ohne Minderheitenschutz

Kinder in der alternden Gesellschaft

Kinder in der alternden Gesellschaft | Video verfügbar bis 26.01.2027 | Bild: IMAGO/Michael Gstettenbauer

Deutschland steht an einem Wendepunkt: Die geburtenstarken Jahrgänge kommen ins Rentenalter und die damit einhergehenden demografischen Veränderungen stellen das Land vor ungeahnte Herausforderungen. Doch die junge Generation, die demnächst Verantwortung übernehmen soll, ist eine Minderheit, deren Lebensrealität geprägt ist von Bildungsungleichheit, Dauerkrisen und dem stetigen Gefühl, politisch und gesellschaftlich übersehen zu werden. Das Buch "Kinder – Minderheit ohne Schutz" fordert ein Umdenken: Kinder müssen aus ihrer Außenseiterposition ins Zentrum gerückt werden, nicht nur als moralische Verpflichtung, sondern als essenzielle Notwendigkeit für eine lebenswerte Zukunft. ttt hat mit den Autoren des Buches, dem Bildungs- und Migrationssoziologen Aladin Al-Mafaalani und dem Sozialwissenschaftler Sebastian Kurtenbach sowie der Juristin Baro Vicenta Ra Gabbert gesprochen.

Wahlkampf ohne Zukunftsthemen

Junge Frau mit langen Haaren schaut ernst in die Kamera.
Baro Gabbert kümmert sich bei Greenpeace um Generationengerechtigkeit. | Bild: WDR

Der Wahlkampf geht in die heiße Phase, aber Zukunftsthemen finden kaum statt, etwa Klimaschutz oder Generationengerechtigkeit. Junge Menschen sind eine schrumpfende Minderheit und sie haben keine starke Lobby. Baro Gabbert, 27, zuständig für Generationengerechtigkeit bei Greenpeace, sagt dazu: "Wir haben wenig junge Menschen, wir haben auch wenige junge Eltern von jungen Menschen und die jungen Menschen, die wir haben, können mehrheitlich gar nicht wählen. Das heißt, das wirkt sich natürlich auch auf den Wahlkampf aus. Wenn über Generationengerechtigkeit gesprochen wird, wird ganz oft nur über die Rente gesprochen." Baro Gabbert berät auch die Bundesregierung, der Spiegel sieht sie als eine von 100 Hoffnungsträgern 2025. Sie weiß: junge Menschen bewegt nicht primär eine sichere Rente in 50 Jahren: "Junge Menschen brauchen auch in 10, 20, 30 Jahren noch Lebensgrundlagen auf einem Planeten, auf dem sie leben können. Und junge Menschen brauchen auch heute schon Schulen, in denen es nicht von den Decken tropft und Schulen, in denen sie auf die Herausforderungen, die dieser Gesellschaft bevorstehen, adäquat vorbereitet werden."

Kindheit als prekäre Angelegenheit

Buch "Kinder - Minderheit ohne Schutz"
Buch "Kinder - Minderheit ohne Schutz" | Bild: WDR

Baro Gabbert ist Juristin und Mitglied im Bundesjugendkuratorium. Wie auch Aladin El-Mafaalani. Der Professor für Migrations- und Bildungssoziologie an der Universität Dortmund schlägt jetzt gemeinsam mit Soziologen-Kollegen Alarm, will die von der Politik vernachlässigten Kinder in den Fokus rücken: "In ganz vielen Bereichen sehen wir eine Entwicklung hin zum Schlechteren und gleichzeitig redet da niemand drüber. Keiner hat daran gedacht, dass Kindheit eine prekäre Angelegenheit wird in der alternden Gesellschaft." Einer der Mitautoren des Buches "Kinder – Minderheit ohne Schutz" ist der Professor für Politikwissenschaft und Sozialpolitik an der Fachhochschule Münster, Sebastian Kurtenbach. Er sagt: "Es ist die Gruppe, die in Zukunft riesige Aufgaben bewältigen muss und dafür statten wir sie nicht adäquat aus."

Minderheitenschutz für Kinder

In ihrem aktuellen Buch fordern die Soziologen einen Minderheitenschutz für Kinder, denn die Politik wird dominiert von der Mehrheit der Älteren und deren Interessen. Die Jungen erdulden bedrohliche Schieflagen in dieser alternden Gesellschaft. So brachten Kinder die größten Opfer in der Coronakrise, und schon davor fehlt es an Kitas, Schulen sind oft miserabel ausgestattet. Die Kompetenzwerte gehen runter, die Zahl der Schulabbrecher steigt. Kindern in Deutschland geht es immer schlechter. Und sie haben immer häufiger kaum noch Gemeinsamkeiten. "Fragmentierte Kindheiten" benennt Sebastian Kurtenbach dies. Es bedeutet: Diejenigen, die in einem wohlhabenden und diejenigen, die in einem ärmeren Stadtteil aufwachsen, haben völlig unterschiedliche Alltagswelten. Das Gefälle arm und reich wird größer, das Erleben von Kindheit klafft immer weiter auseinander.

Schulen als Lebensorte

Dunkelhaariger Mann mit Bart blickt ernst in die Kamera.
Der Bildungssoziologe Aladin El-Mafaalani. | Bild: WDR

Es gibt nur halb so viele Sechsjährige wie Sechzigjährige. Und diese schrumpfende Minderheit lebt in einer super diversen Welt. Kitas und Schulen sind darauf nicht vorbereitet. "In einer Klasse werden zwölf Sprachen gesprochen und die Kinder fühlen sich acht Religionsgemeinschaften zugehörig", sagt Aladin El-Mafaalani, "das ist eine Komplexität, die ist enorm. Das ist der soziale Kontext, in dem diese Kinder, wenn es jetzt zum Beispiel eine Ganztagsgrundschule ist, die meiste Zeit am Tag verbringen." Was tun? Die Autoren schlagen vor, jungen Menschen mehr zuzuhören, sie in Zukunftsräte einzubinden, die vom Stadtrat bis zum Bundestag politische Gremien beraten sollen. Vor allem aber fordern sie völlig neue Schulen, Community Center, wo nicht nur unterrichtet wird. "Wenn weniger Zeit in der Familie verbracht wird und mehr in den Institutionen, dann muss das einhergehen mit mehr Multifunktionalität dort. Das müssen Lebensorte werden, das müssen Orte werden, die nicht Familie komplett ersetzen, aber die relativ nahe daran gehen, wo man sich wohlfühlen muss, wo man sich zugehörig fühlen muss", so Aladin El-Mafaalani.

Boomer-Potential

Blonder Mann mit 3-Tage-Bart und Brille.
Der Sozialwissenschaftler Sebastian Kurtenbach. | Bild: WDR

Damit das funktioniert, sollten nicht Junge gegen Alte in Stellung gehen. Das Verhältnis der Generationen untereinander war noch nie so gut. Die Millionen Boomer, die jetzt in Rente gehen, leben länger und sind fitter als je zuvor, die Autoren sehen sie als Potential, wie Sebastian Kurtenbach bekräftigt: "Wir sehen keinen neuen Generationenkonflikt. Sondern die Verhältnisse zwischen den Generationen sind erst mal gut. Darauf kann man aufbauen. Das heißt, wir müssen diese Boomer-Generation, die jetzt in Rente geht, versuchen, noch stärker einzubinden für Kinder."

Gemeinsam kämpfen

Schon jetzt ziehen manche Junge und Alte an einem Strang, kämpfen etwa gemeinsam für mehr Klimagerechtigkeit. Eine gute Zukunft, das geht nur, wenn die Älteren sich einbringen. Baro Gabbert sieht positive Beispiele: "Was mir Hoffnung macht ist, dass es Menschen gibt, die auf ihre ganz eigene Art und Weise für eine lebenswerte Zukunft streiten, für eine gerechte Gesellschaft und auch für eine generationengerechte Gesellschaft, nicht nur für sich, sondern auch für die Eltern und Großeltern, die ihnen auch am Herzen liegen."

Autorin: Claudia Kuhland

Buchtipp
Aladin El-Mafaalani, Sebastian Kurtenbach, Klaus Peter Strohmeier:
"Kinder – Minderheit ohne Schutz. Aufwachsen in der alternden Gesellschaft"
Kiepenheuer & Witsch, 288 Seiten, 24 Euro
ISBN 978-3-462-00752-7

Stand: 26.01.2025 20:54 Uhr

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Westdeutscher Rundfunk
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