So., 28.04.24 | 23:05 Uhr
Das Erste
"Irena"
Das Musical "Irena" feiert Anfang Mai seine Berlin-Premiere und erzählt die wahre Geschichte der polnischen Sozialarbeiterin Irena Sendler. Während des Zweiten Weltkriegs war sie Kopf eines Netzwerks mutiger Polinnen, die unter anderem ein sechs Monate altes Baby versteckt in einer Kiste auf die "arische" Seite schmuggelten. Das gerettete Mädchen ist heute 82 Jahre alt und hält mit ihrer Geschichte die Erinnerung an den Widerstand gegen die Nationalsozialisten wach: Elzbieta Ficowska. "ttt" trifft die Holocaust-Überlebende am Musiktheater in Poznan bei einer Aufführung von "Irena" – am Jahrestag des Aufstands im Warschauer Ghetto.
Mit sechs Monaten aus dem Warschauer Ghetto geschmuggelt
Von ihren Eltern ist Elzbieta Ficowska nur dieser eine Gegenstand geblieben: "Ein Silberlöffel, auf dem ist mein Name eingraviert – und hier steht das Geburtsdatum: Ich wurde am fünften Januar '42 geboren." Im Warschauer Ghetto kommt sie zur Welt – als Elzunia. Ihr jüdischer Name steht auf dem Löffel. Mit sechs Monaten wird sie aus dem Ghetto geschmuggelt – versteckt in einer Kiste mit Luftlöchern. "Dieser Löffel bringt mir mein Leben lang Glück. Davon erzähle ich gerne – weil er für all die Liebe steht, die ich immer bekommen habe, eine Unmenge Liebe. Zuerst brauchte es viel Liebe von meinen leiblichen Eltern: um sich von seinem Baby zu trennen – in der Hoffnung, dass es so überlebt. Und dann brauchte es viel Liebe von meiner Pflegemutter, um ein jüdisches Kind bei sich zu verstecken – obwohl sie dafür mit dem Tod bestraft werden konnte", erzählt die Holocaust-Überlebende Elzbieta Ficowska.
Das Musical erzählt die wahre Geschichte von Irena Sendler
Hier am Musiktheater Poznan erzählt ein Musical die wahre Geschichte der Frau der Elzbieta Ficowska und 2.500 weitere Kinder aus dem Warschauer Ghetto ihr Leben verdanken: Irena Sendler. Die polnische Sozialarbeiterin war der Kopf eines Netzwerks, das jüdische Kinder aus dem Ghetto schmuggelte – versteckt in Säcken, unter Müll, in Kisten. Den Familien fiel es unendlich schwer, sich vom Wertvollsten zu trennen, was sie hatten: ihre Kinder. Musical-Szene: "Herr Grinberg Senior schreit auf: 'Njet! Garantieren Sie mir, dass mein Junge überlebt?' Irena: 'Herr Grinberg, bei allem Respekt, das kann ich nicht. Ich weiß nicht einmal, ob ich heute lebend aus dem Ghetto komme.'" Bis an ihr Lebensende 2008 hat Irena Sendler diese Abschiedsszenen nicht vergessen. "Oft wollten sie mir ihr Kind nicht geben. Sie fragten immer: 'Wer garantiert mir, dass mein Kind überlebt?' Ich sagte: 'Niemand. Ich weiß nicht einmal, ob ich selber überlebe'", erzählt Irena Sendler.
Irena Sendler rettet 2.500 jüdische Kinder
An Irena Sendler erinnert dieser Dokumentarfilm, den Piotr Piwowarczyk produziert hat. Lange war ihre Geschichte vergessen. In ihren letzten Lebensjahren besuchte er sie jeden Monat im Altersheim. Ein Bild von Irena Sendler trägt er immer bei sich. "Es ist sehr wichtig, besonders jungen Menschen zu zeigen, dass Helden – so wie Irena – keine andere DNA haben als wir alle. Wir alle sind fähig, Außergewöhnliches zu tun – wir alle! Die Frage ist nur: Sind wir in der Lage, uns dafür zu entscheiden?", so Produzent und Filmemacher Piotr Piwowarczyk.
Eingepfercht im Warschauer Ghetto
Eine Mauer umschließt das Warschauer Ghetto: 1941 sind darin fast eine halbe Million Menschen eingepfercht – auch die Eltern von Elzbieta Ficowska. Sie leiden unter Hunger. Ansteckende Krankheiten breiten sich aus. Dann beginnen die Transporte in die Konzentrationslager … "Meine Mutter ist 1943 in Poniatowa im Lager gestorben: Mit 24 wurde sie ermordet. Mein Vater hat sich am Umschlagplatz im Ghetto geweigert, in den Zug zu steigen. Er sagte: Ich habe ein kleines Kind, eine Tochter, die ich nicht zurücklassen kann. Deshalb wurde er erschossen", erzählt Elzbieta Ficowska.
Rettung aus dem Ghetto
Elzbieta Ficowska als Baby – kurz nach ihrer Rettung aus dem Ghetto. "Ich habe nie ein Foto von meinen Eltern gesehen. Sie existieren einfach nicht. Ich kann mir nur vorstellen, wie sie aussahen, das ist alles. Das hingegen ist ein Foto mit meiner Pflegemutter", so Elzbieta Ficowska. Elzbietas Pflegemutter war Hebamme und Teil des geheimen Netzwerks von Irena Sendler. Um ins Ghetto zu gelangen, nutzen die Frauen die Angst der Deutschen vor Seuchen: Um den Typhus im Ghetto zu bekämpfen, bekommen sie Passierscheine als Sanitäterinnen.
"Ich habe den Juden einfach nur die Hand gereicht"
"Mein Vater hat immer gesagt: Wenn jemand zu ertrinken droht, reich ihm deine Hand. Ich habe den Juden einfach nur die Hand gereicht", erzählt Irena Sendler. Sie hat den Kindern falsche Identitäten verschafft: christliche Namen und Einträge ins Kirchenregister. Ihnen das "Vaterunser" auf Polnisch beigebracht, damit sie nicht auffallen – bei Nonnen, in Waisenhäusern und in katholischen Pflegefamilien. Sie haben alle überlebt.
Deutschland-Premiere am 5. Mai
Den Versuch, diese Geschichte als Musical zu erzählen, findet Elzbieta Ficowska gelungen. Am 5. Mai wird sie das Stück zur Deutschland-Premiere nach Berlin begleiten. "Das Musical ist eine leichte Form, es ist Popkultur – und dabei kann es informieren. Das finde ich wichtig – besonders für die jungen Menschen. Die Deutschen von heute müssen sich nicht schuldig fühlen für die Taten ihrer Vorfahren. Aber sie müssen wissen, was passiert ist", so Elzbieta Ficowska.
Autorin: Anne Kohlick
Stand: 28.04.2024 19:49 Uhr
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